Interview

Justine Henin: "Kerber bleibt eine sehr gefährliche Spielerin"

Justine Henin, die ehemalige Nr.1 der Welt, spricht in der AZ exklusiv über Angelique Kerber, ihren großen Favoriten Djokovic und erklärt, warum sie schon mit 25 zum ersten Mal ihre Karriere beendet hatte.
von  Thomas Becker
Früher war sie stabiler, und ich weiß nicht, warum das nicht mehr so ist, sagt Justine Henin über Angelique Kerber.
Früher war sie stabiler, und ich weiß nicht, warum das nicht mehr so ist, sagt Justine Henin über Angelique Kerber. © dpa

München - AZ-Interview mit Justine Henin: Die Belgierin (38) gewann sieben Grand Slams und war mehr als hundert Wochen lang die Nr. 1 der Welt.

AZ: Madame Henin, Corona hat längst auch die Tennis-Welt im Griff. Sie werden für Eurosport aus Paris statt aus Melbourne kommentieren. Was für ein Turnier werden diese Australian Open?
JUSTINE HENIN: Ein verrücktes Turnier, ein einzigartiges. Die Spieler sind nicht in der gleichen Verfassung. Tennisprofis sind es gewohnt, sich an die Bedingungen anzupassen, aber in diesem Fall ist das eine enorme Herausforderung. Mir ist so was zum Glück erspart geblieben. Klar gibt es in den letzten zwölf Monaten sehr viel schlimmere Dinge im Leben vieler Menschen, Tennisspieler können dagegen immer noch das tun, was sie lieben: reisen, ihrem Job nachgehen - und sie können den Zuschauern Emotionen vermitteln. Andererseits können sie sich nun nach Monaten der Vorbereitung auch mit dem Virus infizieren. Da sind so viele Fragen und Zweifel, und derjenige, der all das mit Gelassenheit annehmen und seine Gefühle managen kann, der wird erfolgreich sein. Der Schlüssel ist, in dieser Situation auch das Positive zu sehen. Das wird den Unterschied machen.

Justine Henin sieht Djokovic in Favoritenrolle

Wer sind Ihre Favoriten?
Das ist schon in einer normalen Situation schwer zu sagen und jetzt fast unvorhersehbar. Mit Sicherheit haben mental starke Spieler einen Vorteil. Ich muss zugeben, dass ich Situationen mit vielen Unbekannten mag, weil da so viel mentales Management zu beobachten ist. Das ist aufregend! Die großen Athleten haben diese Fähigkeit zur Adaption. Und die Unterschiede in Australien waren gewaltig: Manche Spieler konnten zwei Wochen nicht trainieren, andere schon. Aber wenn ich mich auf einen festlegen müsste, dann Novak Djokovic. Er war immer so gut in Australien - wie können wir ihn nicht als Favoriten sehen? Nach dem, was bei den US Open passiert ist, wird er zudem jede Menge Motivation mitbringen.

Was trauen Sie Angelique Kerber zu?
Ihr Auf und Ab dauert nun schon eine ganze Weile an, aber sie bleibt natürlich dennoch eine sehr gefährliche Spielerin. Sie mag es in Australien zu spielen. Sie hat die Erfahrung und das Talent, sie weiß, wie das Spiel funktioniert: Das sind eine Menge Qualitäten. Aber sie muss sich stabilisieren, was nicht einfach ist. Früher war sie stabiler, und ich weiß nicht, warum das nicht mehr so ist. Klar, sie hatte Verletzungen, dann kommen die Zweifel, das Selbstvertrauen schwindet: ein Teufelskreis.

Justine Henin.
Justine Henin. © imago/Belga

So trifft man die Entscheidung zum Karriereende

Kerber hat zugegeben, dass sie das Thema Karriereende beschäftigt. Julia Görges erklärte unlängst ihren Rücktritt, mit 32. Serena Williams und Roger Federer sind Ende 30, Sie selbst hörten schon mit Mitte 20 auf, als Weltranglistenerste, gaben zwei Jahre später ein Comeback, bevor verletzungsbedingt endgültig Schluss war. Wann weiß ein Spieler, dass es Zeit ist aufzuhören?
Das ist ganz individuell. Wir hören zu unterschiedlichen Zeiten unserer Karriere auf, aus unterschiedlichen Gründen. Als ich vor zehn Jahren aufgehört habe, war mein Körper am Ende. Die Ärzte sagten mir, dass ich körperlich nicht mehr mein Level würde erreichen können. Da ich nicht so groß und stark bin, musste ich mich körperlich immer immens pushen. Und man opfert so viel: soziales Leben, Familie. Für mich war es Zeit, mehrere Aspekte meines Lebens zu verbinden. Ich bin ein Mensch, der alles zu 300 Prozent macht, das hieß: 300 Prozent Tennis.

Henin entschied sich gegen den Sport und für die Familie

Können Sie einschätzen, wie das bei anderen Spielern aussieht?
Motivation ist der Schlüssel. Wenn du viele Verletzungen hast, sinkt deine Motivation. Wenn du diese Verletzungen gut wegsteckst, wenn du ab einem gewissen Alter auch mit deiner Familie reisen kannst wie Roger oder Serena das tun, dann ist da immer noch diese Leidenschaft. Sobald du aber das Gefühl hast ‚Ich wäre gern woanders', dann musst du anfangen nachzudenken. Das braucht Zeit. Die meisten Menschen fangen mit Mitte 20 an zu arbeiten - in dem Alter sind wir schon sehr lange unserer Bestimmung gefolgt. Und zu akzeptieren, dass sich dein Leben mit einem Rücktritt komplett ändert: Das dauert. Aber wenn das ohne Bedauern geschieht und du bereit bist, neue Dinge zu lernen, dann geht das ganz gut.

Warum sind damals schon mit 25 zurückgetreten?
Meine Schwester hatte da eine schwere Phase in ihrem Leben - und ich war nicht da. Das fing an, in meinen Kopf reinzukriechen. Ich wollte mehr für meine Familie da sein, als menschliches Wesen, nicht nur als Tennisspieler. Und ich wollte andere Dinge lernen. Tennis hat mir sehr viel bedeutet, aber ich war nicht mehr in der Balance. Die Tennis-Welt war die Welt für mich, und als ich aufhörte, wurde ich wieder zu einem Baby. Ich liebe es zu lernen, egal was. Sobald ich spüre, dass ich Fortschritte mache, ist alles gut.

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