Julia Irmen: Plädoyer einer Polizistin

Kickbox-Weltmeisterin Julia Irmen verteidigt Donnerstagnacht ihren Titel. In der AZ spricht sie über Zivilcourage, sinkende Hemmschwellen und den Todesfall Tugce
von  Matthias Kerber
Kickboxerin Julia Irmen im Mittelpunkt. Außerdem:Bojan Aladzic (l.) und Dominik Haselbeck.
Kickboxerin Julia Irmen im Mittelpunkt. Außerdem:Bojan Aladzic (l.) und Dominik Haselbeck. © Michael Wilfling/ho

Kickbox-Weltmeisterin Julia Irmen verteidigt Donnerstagnacht ihren Titel. In der AZ spricht sie über Zivilcourage, sinkende Hemmschwellen und den Todesfall Tugce.

München - AZ-interview mit Julia Irmen - Die 30-jährige Polizistin ist Weltmeisterin im Kickboxen. In der Nacht auf Freitag (0.00 Uhr, Kabel1) verteidigt sie ihren Titel im Postpalast gegen Anke van Gestel.

AZ: Frau Irmen, in der Nacht steigen Sie wieder in den Ring, gegen die Thaibox-Weltmeisterin Anke van Gestel. Wie steht es um das Kickboxen in Deutschland? Sat.1 hat sich nur die Senderechte für die Box-Stars wie Arthur Abraham gesichert, Ihr Kampf wird nur noch auf Kabel1. gezeigt...

JULIA IRMEN: Ich denke, dass wir Kickboxer absolut unsere Daseinsberechtigung haben, aber man muss natürlich sehen, dass unser Sport mit dem Rücktritt von Chrissie Theiss sein Aushängeschild verloren hat. Das führte in jedem Sport zu gewissen Problemen, das war beim Tennis nach Becker und Graf nicht anders. Ich bin erst dabei, mir die Sympathien, den Bekanntheitsgrad zu erarbeiten, den Chrissie hatte. Sie war ein Phänomen. Es wird nicht einfach, dieses Level zu erreichen. Aber wir reden hier auch von einem extrem hohen Standard, den Theiss gesetzt hat. Ich bin überzeugt, dass Kickboxen ein Trendsport ist.

Sie haben für den Kampf gegen van Gestel sogar mit Theiss trainiert.

Van Gestel ist ja fast genauso groß wie Theiss, da hat das gut gepasst für mich als Vorbereitung. Ich will nur die Besten kämpfen, ich will, dass die Leute bei mir eine Weiterentwicklung sehen können.

Wie fit ist die ehemalige Kickbox-Queen Theiss noch?

Sehr! Man merkt ihr an, wie viel Spaß es ihr gemacht hat, jetzt, da der tägliche Zwang weg ist. Die hat mir wirklich einige Probleme bereitet.

Schon zu Ihrem Geburtstag im September mussten Sie wegen eines Kampfes Diät halten und jetzt vor Weihnachten wieder...

Eine kleine Folter! Aber ich habe meinem Sohn versprochen, dass wir danach Plätzchen und Kekse backen. Die Sorte ist egal – Hauptsache viel (lacht). An Weihnachten essen wir immer ein schlesisches Gericht. Lebkuchensuppe mit Würstchen und Brot. Das klingt seltsam, schmeckt aber super. Ich kämpfe auch gerne, wenn es kalt ist, ich bin als Kämpferin eher eine Eisprinzessin. Wenn es zu warm, mag ich es nicht so.

Der Dezember war für Sie zuletzt stets ein sehr schwerer Monat. Vor drei Jahren beging Ihr enger Freund und Trainingskollege, Thaibox-Weltmeister Besim Kabashi, Selbstmord, vor zwei Jahren nahm sich Ihr Ex-Trainer das Leben.

Ja, das ist erschreckend und man findet für sich selber nie eine Erklärung, man verarbeitet es auch nur so schwer. Dass diese beiden großen, nach außen so starken Männer, innerlich so verzweifelt waren, dass sie keinen anderen Ausweg sahen, als aus dem Leben zu scheiden, ist fürchterlich. Es zermartert einen, weil man sich immer wieder die Frage stellt, hat er mir ein Zeichen gegeben? Habe ich etwas übersehen? Man zweifelt auch an seiner Menschenkenntnis. Wie kann es sein, dass man über Jahre mit jemandem so eng zusammen ist, aber man nie, nicht ein einziges Mal, gesehen hat, dass der, der gerade mit dir lacht, innerlich so verzweifelt ist, dass er nicht mehr leben will? Die Maske der Fröhlichkeit war so undurchdringlich, aber innerlich muss er so was von gelitten haben, dass er keinen Ausweg sah. Das trifft mich noch immer.

Dabei sind Sie ja als Polizistin sogar psychologisch geschult.

Ja, und ich halte mich auch für sehr sensibel, aber ich habe nie etwas gemerkt, er hat auch mich damit vollkommen getäuscht.

Sie sind wie gesagt Polizistin, kümmern sich zudem um Gewaltopfer. Deutschland wird im Moment vom tragischen Tod von Tugce erschüttert, die einer Frau in Bedrängnis half und dann von einem der Täter erschlagen wurde.

Dieser Fall ist unglaublich tragisch und traurig. Ich frage mich immer wieder, wo ist die Hemmschwelle geblieben? Wie kann es sein, dass ein Mann einer Frau mit voller Wucht mit der Faust ins Gesicht schlägt? Mir macht es Angst, was in unserer Gesellschaft passiert. Ich hoffe nur, dass der unfassbare Tod von Tugce nicht dazu führt, dass jetzt noch mehr Leute nichts tun, wenn sie eine Straftat sehen, weil sie jetzt noch mehr Angst haben.

Die Angst ist verständlich angesichts solcher Vorfälle.

Absolut. Aber kein Mensch muss körperlich dazwischen gehen. Zivilcourage bedeutet schon, Hilfe zu holen, die Polizei anzurufen, nicht wegzuschauen. Ich kann nur bitten, dass wir alle mit offenen Augen durch die Welt gehen und nicht wegschauen, wenn jemand in Not ist. Wenn es noch Menschen mehr wie Tugce geben würde, wären die, die eingreifen, nicht alleine. Aber wie gesagt, ich verstehe nicht, wo die Hemmschwelle geblieben ist.

Es gibt Experten, die den Verlust der Hemmschwelle auf die Dauerberieselung mit Gewalt zurückführen. Etwa durch Wrestling oder Kickboxen.

Für mich hat Kickboxen gar nichts mit Gewalt zu tun, die ich abgrundtief verachte. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse muss in der Erziehung beigebracht werden. Wenn mein Sohn etwas angestellt hat, genügt ein Blick, dann weiß er, er muss sich entschuldigen. Dieses Wertesystem muss durch die Eltern installiert werden. Leider wird es immer Menschen geben, die durch ein Raster fallen, die intellektuell nicht in der Lage sind, Differenzierungen zwischen Gut und Böse zu machen. Genau wie man nicht ausschließen kann, dass Menschen, die etwa bei der Bundeswehr oder der Polizei in ihrer Ausbildung Dinge lernen, mit denen man auch Schlechtes tun kann, dies auch machen. Das läuft dem Sinn, der Intention, den Werten, die dahinterstehen, vollkommen zuwider, aber es gibt Leute, die all das pervertieren. Das ist unglaublich tragisch, aber wir leben nun mal in keiner Glocke, in der es keine Einflüsse gibt. Leider können selbst die positivsten Dinge negativ gehandhabt werden.

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