Irrsinn Ischgl

Ballermann im Hochgebirge: Zehntausende feiern mit Roxette das Ski-Opening in Ischgl. Manche haben sich den Schnaps gleich im Kinderwagen mitgebracht.  
Matthias Maus |
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Skurriles Saison-Opening. Ja, zum Skifahren geht's auch in Ischgl.
Matthias Maus Skurriles Saison-Opening. Ja, zum Skifahren geht's auch in Ischgl.

Ballermann im Hochgebirge: Zehntausende feiern mit Roxette das Ski-Opening im Rummelplatz der Alpen. Manche haben sich den Schnaps gleich praktischerweise im Kinderwagen mitgebracht.

Ischgl - Es knirscht. Wie man sich das wünscht im Ski-Urlaub. Nach einem strahlendem Tag auf der Piste durch den Ort stapfen, die Skischuhe sind gegen bequeme Winterstiefel getauscht, und unter den Sohlen brechen Schneekristalle. Nur, von Schnee kann hier nicht die Rede sein.

Glas, die Scherben von hunderten von Flaschen, splittert unter torkelnden Gestalten vor der Talstation der Silvretta-Bahn. „Alles ganz normal“, sagt Peter: „S'isch halt Partytime in Ischgl.“

Am Wochenende war Saisonauftakt im vermutlich größten Rummelplatz der Alpen. Man kann auch Skifahren. Selbst im schneelosen Vorwinter 2011 haben die Ischgler fast 100 Pistenkilometer präpariert. Aber die Hauptsache folgt für die meisten erst danach. „Roxette“ hat gespielt auf dem Hauptplatz, die Sängerin Marie Fredriksson hat furchtbar gefroren, aber der Schweden-Pop macht wenigstens ein bisschen warm.

Und dann ist der Abend ja noch jung. Seit mehr als einem Jahrzehnt kommen Zehntausende ins Paznaun zum „Ski-Opening“, Voll-Dröhnung ist dabei inklusive, auch mit Musik. Aus dem schmalen Bergdorf ist längst eine Eventmeile geworden. Die Jungen, die Wilden sind da: die Party-People, für die Wintersport nur teilweise mit Pisten zu tun hat und nur sehr bedingt mit verschneiten Dacherln und Kutschfahrten. 18 000 sollen am Samstag bei Roxette gewesen sein, sagt die Gemeinde. Massentourismus kann hier kein Schimpfwort sein.

Und die Massen haben Durst. Deshalb wird zwischen „Kuhstall“ und „Fire& Ice“, zwei berühmten Apres-Ski-Hotspots, getrunken, was in die Kehlen passt. Bier, Gin, Rum, Wodka, mit oder ohne Red Bull. Und die Flaschern fallen halt zu Boden im Verlauf des Abends. Manche Zecher deponieren das Leergut in den Blumenkübeln und auf dem Gesimsen um das „Trofana Royal“, dem einzigen Fünf-Sterne-Hotel am Platz.

Und nicht alle sind so gut organisiert wie die Gruppe aus Karlsruhe, die sich praktischerweise einen Kinderwagen mit Schnaps mitgebracht hat: „Im Sommer sind wir in Mallorca, im Winter in Ischgl“, sagt einer. Und: „Wodka ist schon lange leer.“ Es gibt nur noch Rum, Ouzo oder Obstler im Buggy.

Ohne Alkohol geht nichts. Niemand weiß das besser als Bianca Erharter. Die 22-Jährige hat eine fesche Schirmmütze auf und eine Schärpe mit „Alkomat“ darauf: „Der ist polizeilich geeicht,“ erklärt die Linzer Studentin ihr Gerät. 70 Trinker haben schon hineingeblasen heute. 3,50 Euro kostet der Test, ein Euro davon bleibt der jungen Frau. Was war der höchste Wert? „2,8 Promille“, sagt sie, als wär's das normalste der Welt.

Es ist kurz vor Mitternacht. Um diese Zeit rennen erstaunlich viele Wintersportler in T-Shirt und Spaghetti-Trägern durch die Gassen. Es gibt zwar keinen Naturschnee, aber kalt ist es trotzdem, also rein ins Warme. Langsam füllen sich die „Trofana-Arena“ (fünf Euro Eintritt) und das Pacha (zehn), die beiden berühmtesten Diskos. Im Vergleich zur leicht bekleideten Laufkundschaft auf der Straße haben die Frauen, die hier auf dem Podium tanzen, noch weniger an. Auf den Wangen vieler Männer herrscht Alpenglühen. Es sind dies übrigens ganz normale Clubs in Ischgl, die der Mann vom Tourismus-Verband arglos empfohlen hat.

„Explodiert ist es Mitte der neunziger Jahre“, erzählt Werner Kurz, Bürgermeister von 1600 Einwohnern in dem eigentlich beschaulich gelegenen Dorf zwischen Seekopf und Greitspitze. Die Statistik weist 60 Bauern aus, 508 Kühe, 304 Schafe und 12000 Gästebetten. „Tourismus gab es schon lange“, sagt der Gemeinde-Chef. „Aber irgendwann hatten wir die Wahl zwischen Abwanderung der Leute und dem Ausbau der Bahnen.“

Man wählte den Angriff. Ein großes Skigebiet vor der Kulisse Stammkar oder Piz Pazna war Ischgl mit dem Übergang in den Schweiz nach Samnaun schon länger. Aber dann kamen findige Figuren wie der Aloys Günther auf die Idee, Stars ins Tal zu holen, das hinter Galtür zu Ende ist. „Wir haben 1995 Elton John gefragt, ob er nicht bei uns auftreten wollte“, erinnert sich Kurz, der damals im Tourismus-Amt arbeitete.

Und der Weltstar winkte nicht etwa ab. Er fragte die Bergbauern-Abkömmlinge auch nicht, ob sie vielleicht verrückt geworden seien, ein Open-Air-Konzert im Winter im Hochgebirge abzuhalten. Nein, Elton John kam und spielte – angeblich für umgerechnet 150.000 Euro – „wenig“, sagt der Bürgermeister.

Die Investition hat sich gelohnt, das Konzept wurde ein Bombenerfolg. Jon Bon Jovi und Rod Stewart waren da, Peter Gabriel und Beth Ditto spielten vor Zehntausenden - der Skipass genügt als Eintrittskarte. „Und die Betten sind voll“, sagt der Bürgermeister.

Das ist noch immer die härteste Währung in Österreich, wo Tourismus Staatsräson ist. Hier in Ischgl nimmt man dafür ein paar Begleiterscheinungen in Kauf. Vielleicht bringen die Scherben vor der Silvretta-Talstation ja Glück. Und vielleicht schneit's ja irgendwann mal. Denn Skifahren ist hier wirklich schön.

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