Irmens trauriger Befreiungsschlag
Die Kickboxerin wurde von ihrem Stiefvater misshandelt, bis sie ihn mit 14 Jahren aus dem Haus prügelte. Jetzt will sie anderen Opfern helfen.
München - Ihr 30. Geburtstag am 22. September war für Julia Irmen eine Qual. Das passionierte Schleckermäulschen war zur Zuschauerrolle verdammt.
Gewicht halten ist angesagt für die Kickbox-Weltmeisterin vor ihrer Titelverteidigung in der Nacht auf Freitag (Kabel1 überträgt ab 0.00 Uhr) im Circus Krone gegen die Französin Lelo Page. „Meine Gäste konnten alle Kuchen in sich rein-stopfen. Nur ich nicht“, sagt Irmen, die sich aber dafür auf der Wiesn belohnen will. „Wenn ich gewinne, und davon gehe ich aus, dann werde ich mir Ente mit Blaukraut und Knödeln gönnen, das ist meine Leibspeise. Und ein Bier“, sagt die Münchnerin, die schon vergangenes Jahr auf dem Oktoberfest „Siegerehrung“ hatte. „Damals hatte ich durch einen Kopfstoß ein Riesenei als Veilchen. Ich sah aus, als hätte ich einen Maßkrug abgekriegt, alle haben mich verhätschelt, selbst bei den Schlangen vor den Toiletten wurde ich vorgelassen, alle hatten Mitleid.“
Polizistin Irmen hat sich große Ziele gesetzt. Sie will unbedingt in die Fußstapfen der zurückgetretenen Kickbox-Queen Christine Theiss treten. „Ich mache mir schon viel Druck, denn ich will allen beweisen, dass ich keine Eintagsfliege bin“, sagt Irmen, die sich aber nicht wie Theiss für den Playboy entblättern will. „Nein, das kommt für mich nicht in Frage. Kickboxen ist eine Männerwelt, fast alle, mit denen ich zusammen trainiere, sind Kerle, da muss das nicht sein. Ich mag die Bilder von Christine, aber die Überraschung für mich ist gering. Ich habe sie beim Duschen oft genug nackt gesehen“, amüsiert sich Irmen und fügt dann an: „Für mich wäre es das Schlimmste, wenn mich mein Opa so sehen würde. Für ihn bin ich immer noch die kleine Prinzessin. Ich sitze noch heute auf seinem Schoß.“
Irmen lacht viel, sie ist immer gut gelaunt. Doch diese Fröhlichkeit ist auch eine Maske, hinter der sie ihre gequälte Seele versteckt. Irmen hat eine extreme Kindheit hinter sich, die sie jetzt erstmals im „Focus“ offenbarte. Als Julia noch ein Kleinkind ist, zieht die Mutter weg aus Stralsund und von Julias Vater, einem Jordanier, nach Dingolfing. Im Kindergarten wird sie gemobbt, wegen ihres dunklen Teints ist sie nur „die Kanakin“. Die Mutter verliebt sich erneut. In einen gewalttätigen Familientyrannen. Schläge und Demütigungen für Irmen, die damals ein bisschen pummelig war, sind fast an der Tagesordnung. Oft versteckte sie sich vor dem Stiefvater. Sie wird zum Problemkind, die Noten sind miserabel, sie prügelt sich, fliegt von der Schule, kommt auf eine Klosterschule.
Doch auch da gibt es große Probleme. Eine Hauptschullehrerin entdeckt ihr großes sportliches Talent, sie meldet sie im Chor an, kümmert sich um sie, hört ihr zu, fördert sie. Julia macht die Mittlere Reife – als Jahrgangsbeste. „Ich verdanke ihr mein Leben“, sagt Irmen heute. Ein Leben, das sie selbst in die Hand nimmt, als sie 14 ist. Als der Stiefvater sie mit einer Wasserpistole verprügelt, zerbricht diese.
Das ist der Moment, in dem sie zurückschlägt. Mit allem, was ihr in die Finger kommt, schlägt sie auf ihren Peiniger ein, prügelt ihn aus dem Haus. Das Ende des Martyriums. „Es ist traurig, dass ich fast 30 Jahre alt werden musste, um das halbwegs zu verarbeiten. Ich hatte so viel in mir aufgestaut. In den letzten Monaten hatten mein Trainer Mladen Steko und ich viele Gespräche, da haben ich das dann rausgelassen“, sagt Irmen, „ich habe gemerkt, ich muss das erzählen. Für mich. Vielleicht kann ich so Menschen, die Ähnliches erleben mussten, helfen. Ich habe sehr viele Rückmeldungen erhalten. Ich will helfen. Vielleicht kann ich in gewisser Weise ein Vorbild für gepeinigte, unterdrückte Frauen werden.“
Bei ihrem traurigen Befreiungsschlag kann Irmen die Tränen kaum zurückhalten.