Interview

Ingo Schultz: "Für eine Woche mal Volksheld zu sein, das war schon toll"

Der 400-Meter-Läufer hat bei der EM 2002 in München Gold geholt. In der AZ spricht er über den Erfolg, sein Leben - und die Krise der Leichtathletik.
Florian Kinast |
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"München 2002 war der Höhepunkt meiner Karriere", sagt Ingo Schultz über seinen Gold-Lauf bei der EM über 400 Meter.
"München 2002 war der Höhepunkt meiner Karriere", sagt Ingo Schultz über seinen Gold-Lauf bei der EM über 400 Meter. © imago

München - AZ-Interview mit Ingo Schultz: Der jetzt 47-jährige Leichtathlet war Zweiter über die 400 Meter bei der WM 2001 in Edmonton, bei der EM in München im Jahr darauf holte er sich die Gold-Medaille. 2008 beendete er nach vielen Rückschlägen seine Karriere.

Ingo Schultz.
Ingo Schultz. © dpa

AZ: Herr Schultz, wann waren Sie denn das letzte Mal auf der Stadionrunde unterwegs?
INGO SCHULTZ: Das war 2019, vor Corona, bei den Deutschen Seniorenmeisterschaften. Ich habe mit meiner Mannschaft den Titel über die 4 x 400 Meter abgeräumt. Die 400 lief ich in irgendwas zwischen 54 und 55 Sekunden. Seitdem ist der Wurm drin, ich hatte einen Meniskusriss, während der Pandemie zu trainieren, war nicht so leicht. Jetzt würde ich gerne wieder angreifen, unter 60 Sekunden schaffe ich bestimmt.

"München 2002 war der Höhepunkt meiner Karriere"

Vor 20 Jahren liefen Sie bei Ihrem EM-Triumph in München 45,14 Sekunden. Bedeutete Ihnen der Europameistertitel mehr als WM-Silber ein Jahr zuvor in Edmonton?
Absolut. München 2002 war der Höhepunkt meiner Karriere. Das ganze Ambiente war bombastisch, die Atmosphäre mit dem Olympia-Zeltdach, überall wo ich hinkam, wurde ich angesprochen und durfte Autogramme schreiben. Für eine Woche mal Volksheld zu sein, das war schon toll. Im Kopf blieben mir aber auch die strengen Sicherheitsmaßnahmen- 30 Jahre nach dem Olympia-Attentat von 1972 und ein knappes Jahr nach dem 11. September war das ein sehr sensibles Thema. Bei mir im Haus im Athletendorf fuhr der Aufzug an einer Etage auch immer durch. Das war das Stockwerk, auf dem die israelische Delegation wohnte. Da konnte man wohl nur mit einem Sonderschlüssel stehenbleiben. War irgendwie auch gespenstisch.

Sie waren ein Spätstarter, kamen erst mit 22 zur Leichtathletik, waren davor vor allem im Schach und an der Geige aktiv. Packen Sie die Violine manchmal noch aus?
Einmal vor einigen Jahren. Aber ich habe gemerkt, der Weg ist zu weit, man muss verdammt viel üben, um wieder halbwegs vernünftige Töne rauszubringen.

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Ihr Lieblingsstück? Mozarts Violinkonzert Nummer 3?
Richtig. Nach Silber in Edmonton wurde ich damit regelrecht überfallen. Ich gab am Abend in der ARD ein Interview, als plötzlich Gerhard Delling mit einer Geige dastand und meinte, ich möge bitte spielen. Ich war nach dem langen Tag voller Emotionen völlig platt und brachte wenig zustande. Das war irgendwie auch Foul Play.

Sie sagten einmal, Sie seien schon Wochen vor der EM allein durchs Stadion gelaufen und hätten beim Zieleinlauf die Jubelpose geprobt?
Echt? Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Dafür noch an die Anekdote, dass ich vor der EM in einem Interview scherzhaft erwähnt hatte, ich würde Krafttraining machen, um die Last auf meinen Schultern tragen zu können. Das erschien dann im Stadionheft so - allerdings ernst gemeint. Und ich weiß natürlich noch, wie mich die 50.000 Zuschauer im Stadion nach vorne getrieben haben, wie ich aus dieser irren Stimmung die nötige Energie herausgezogen habe, um am Ende vorne zu sein. Das Publikum war der notwendige Rückenwind für mich, um da durchzukommen.

Narzissmus bei Leistungssportlern: Eher gesunden Egoismus

Sie lieferten eine große Show und erklärten danach, als Leistungssportler müsse man auch eine Portion Narzissmus mitbringen.
Narzissmus hat immer so eine negative Konnotation. Tatsächlich brauchst du eine Selbstbezogenheit, gesunden Egoismus. Natürlich machst du es für die Show, für das Spektakel, natürlich willst du im Wettkampf dich, deine Leistung und deinen Körper dem Publikum zeigen. Das ist vielleicht der Narzisst, der da rauskommt.

Nach München hatten Sie nicht mehr viel Gelegenheit für triumphale Zieleinläufe.
Das ist leider wahr. 2003 fing ich mir bei der Vorbereitung auf die WM in Paris das Pfeiffer'sche Drüsenfieber ein. Ein halbes Jahr war ich komplett am Boden, ohne Immunabwehr, jedes Virus, das herumflog, gehörte mir. Ging ich eine Viertelstunde joggen, war ich völlig platt. Ich war auch psychisch in einem tiefen Loch, die Nachwirkungen zogen sich lange hin. Heute würde man sagen, das war Long Pfeiffer. 2004 stellte ich die Ernährung um, machte einen mentalen Neustart. Aber die großen Erfolge kamen nicht mehr.

Als Sie es 2008 nicht zu Olympia schafften, beendeten Sie Ihre Karriere. Hatten Sie nie Entzugserscheinungen?
Niemals. Ich stürzte mich sofort in meine neue Aufgabe als Ingenieur, war da voll ausgelastet. Das war ein radikaler, aber wichtiger Schritt. Ich machte monatelang gar keinen Sport mehr, auch weil mir die Motivation fehlte. Motivation hatte ich nur, weil ich auf Wettkämpfe trainierte. Aber ohne Wettkämpfe eben auch keine Lust auf Training.

Ingo Schultz ist heute Geschäftsführer bei Avacon Natur

Dafür haben Sie im Beruf eine erfolgreiche Karriere hingelegt, inzwischen sind Sie Geschäftsführer bei Avacon Natur. Können Sie mal das Unternehmensprofil beschreiben?
Die Avacon Gruppe ist eines der größten regionalen Energieversorgungsunternehmen Deutschlands. Als Netzbetreiber versorgen wir Menschen von der Nordseeküste bis Südhessen, von der niederländischen Grenze bis nach Sachsen-Anhalt mit Energie. Avacon Natur ist eine 100-prozentige Tochter, die sich mit Wärme- und Kälteversorgung sowie Stromerzeugung beschäftigt, unter anderem mit Windkraft und Photovoltaik.

Dann sind Sie zur Zeit gut beschäftigt.
Absolut. Das sind sehr unruhige Zeiten, verbunden mit vielen Veränderungen und Sorgen. Der Trend zur Abkehr von Erdgas als fossilem Energieträger wird sich unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und den daraus resultierenden Entwicklungen der Energiepreise weiter beschleunigen. Umso wichtiger ist unser Ziel, bis 2030 alle unsere Anlagen zu dekarbonisieren, dass wir von fossil auf erneuerbar umsteigen. Dass wir mehr Geothermie nutzen oder auch Wärme aus dem Abwasserkanal oder dass wir solarthermische Anlagen bauen. Es gibt einen ganzen Blumenstrauß von Möglichkeiten.

Auch Ingo Schultz sagt harten Winter voraus 

Was sagen Sie als Experte, wie wird der Winter?
Ich glaube, dass wir die von der EU vorgegebenen Energieeinsparziele schaffen. Nichtsdestotrotz sollten wir uns darauf einstellen, dass es hart wird.

Welche Krise beschäftigt Sie derzeit mehr, die in der Energieversorgung oder die in der deutschen Leichtathletik?
Vom Kopf her die Energiekrise. Das ist viel existenzieller für unsere gesamte Gesellschaft. Und doch beschäftigt mich auch die Krise in der Leichtathletik. Auch Sport ist ein wichtiger Teil der Vielfalt, die unser Leben auszeichnet. Nicht so entscheidend wie das Energiethema, aber für Kinder und Jugendliche ist es ganz wichtig, Vorbilder zu haben, auch in der Leichtathletik. Woran es liegt, dass es nicht läuft, ist schwer zu beantworten, vermutlich liegt es an großen strukturellen Problemen. Umso wichtiger ist es, dass in München der Knoten platzt, dass das Publikum große Erfolge des deutschen Teams bejubeln. Wir brauchen wieder mehr Siegermentalität im deutschen Sport.

Braucht es mehr Typen wie Sie?
Ja und nein. Ich denke, dass ich durchaus mit einigen meiner Aktivitäten als Vorbild diene. Auf der anderen Seite sollte jeder seinen eigenen Weg machen. Für die großen Herausforderungen, die vor uns liegen, wird es andere Typen brauchen, die ganz neue Lösungen entwickeln - und in die Tat umsetzen.

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