„In Deutschland war Jesse Owens beliebter als in Amerika“
Anlässlich der WM in Berlin spricht die Tochter der Leichtathletik-Legende exklusiv in der AZ über ihren Vater, den Rassismus, den er in den USA erfahren musste – und warum er gegen Pferde lief.
AZ: Mrs. Owens-Rankin, was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie hörten, dass die Leichtathletik-WM in Berlin, im Olympiastadion stattfindet? Dem Ort, an dem Ihr Vater Jesse Owens, also ein farbiger Athlet, bei Olympia 1936 vor den Augen Adolf Hitlers vier Goldmedaillen holte?
MARLENE OWENS-RANKIN: Ich war begeistert, dass 73 Jahre nach den Erfolgen meines Vaters, an gleicher Stätte wieder große Meisterschaften in dem Sport stattfinden, den er so liebte. Wir, die Owens-Familie, waren schon öfter in Berlin und im Stadion. Und wir waren sehr beeindruckt, dass das Stadion fast identisch aussieht wie damals bei den Spielen 1936. Wir waren auch an der Wand, an der der Name unseres Vaters eingelassen ist. Es war für mich sehr bewegend und beeindruckend.
Aber es war nicht nur die sportliche Leistung, die in Erinnerung geblieben ist: Der Enkel eines Sklaven hat durch seine Leistungen, der Welt eine ganz andere, eine politische Botschaft, gesendet.
Vielleicht war die wichtigere Leistung, die Tatsache, dass er durch seine persönliche Exzellenz bewiesen hat, dass die Lehre von der Überlegenheit einer Rasse, der von Hitler propagierten arischen Rasse, falsch und gegen die Natur ist.
Die Leistungen waren so herausragend, dass auch die Deutschen im Stadion, die ja zur Rassenlehre erzogen waren, Ihrem Vater stehende Ovationen spendeten.
In diesem Moment interessierte nicht, wer die Leistung vollbringt, ob es ein Deutscher oder ein Afroamerikaner war, sondern es interessierte nur, dass die Leistung vollbracht wurde. Diese Ovationen haben meinen Vater in seinem Innersten berührt. Er war dafür sein Leben lang dankbar.
Einer der unvergesslichsten Momente der Spiele 1936 ereignete sich im Weitsprung, als der Deutsche Lutz Long Ihrem Vater beim Weitsprung einen Tipp für den Anlauf gab. Ihr Vater nahm den Rat an, sprang zu Gold und Lutz verlor die Medaille.
Ja, das war ein Moment, über den mein Vater sehr viel gesprochen hat. Er und Lutz blieben nach Olympia in engem Kontakt. Leider kam Lutz im Krieg zu Tode, aber mein Vater hat immer zu der Familie Kontakt gehalten. Es war eine Freundschaft über den Tod hinaus. Die Hilfestellung, die Lutz meinem Vater gegeben hat, war für ihn die Verkörperung der Tugend der Sportlichkeit in seiner reinsten Form. Mein Vater sagte, es erforderte unglaublichen Mut, vor Adolf Hitler, vor so vielen Nazis, diese Hilfestellung zu geben. Ein Tipp, der meinem Vater Gold brachte und Lutz möglicherweise kostete.
Als Ihr Vater 1936 aus Nazi-Deutschland zurückkehrte, war er ein Sportheld, aber das änderte nichts daran, dass er als Schwarzer im Bus hinten sitzen musste.
Ja, der Rassismus in unserem Land hat sein Leben stark beeinflusst. Er hatte große Probleme, eine Arbeit zu finden, Geld zu verdienen, um seine Familie zu ernähren. Er war eine Sport-Ikone als er nach Hause kam, aber er musste feststellen, dass er in die gleiche Welt zurückkehrte, die er verlassen hatte. Eine Welt, in der Rassismus ein Teil des Alltags war. Daran änderten auch vier Goldmedaillen nichts.
Auch US-Präsident Roosevelt empfing Owens nicht im Weißen Haus. Er hielt es nicht für nötig, ihm ein Glückwunschtelegramm zu schicken.
Mein Vater fühlte sich übergangen, nicht gewürdigt. Er war enttäuscht, dass der erste Mann seines Vaterlandes es nicht für nötig empfand, ihn wahrzunehmen. Aber die Enttäuschung war nicht überwältigend. Als farbiger Mensch hatte man damals keine großen Erwartungshaltungen an die Mächtigen in diesem Land.
Um Geld zu verdienen, musste Ihr Vater Showrennen gegen Pferde bestreiten.
Das war die Sache, die am meisten weh tat. Es war menschenunwürdig, und ich weiß, wie sehr es meine Mutter verletzt hat. Sie hat es als grobe Beleidigung angesehen. Aber er musste es tun, weil wir keine andere Möglichkeit hatten, Geld zu verdienen.
1973 erhielt Ihr Vater das Bundesverdienstkreuz, weil er zur Aussöhnung beigetragen hatte, weil er Brücken baute, wie es hieß.
Das trifft zu. Seine Beziehung zum deutschen Volk war immer eine besondere und hat ihm sehr viel bedeutet. Er erhielt in Deutschland mehr Anerkennung als in Amerika. Deutschland liebte ihn mehr.
Wie würden Sie den Vater Jesse Owens beschreiben?
Er war ein ungemein liebenswerter Vater und Mensch. Ich fühlte mich immer geborgen. Er war sehr freigiebig, mit einem großem Herzen. Er war viel auf Reisen, aber wenn er nach Hause kam, war das wie Weihnachten für uns. Er brachte immer wunderbare Geschenke mit, er hatte immer wunderbare Geschichten zu erzählen. Er war ein guter Mensch, der immer an das Gute im Menschen glaubte.
Zwei der berühmtesten Zitate der jüngeren US-Geschichte – Martin Luther Kings „I have a dream“ and Barack Obamas „Yes, we can“ hat er bereits 1936 in sich vereint.
Das ist eine wunderbare Umschreibung seiner Errungenschaften.
Die Welt hat sich extrem gewandelt. Von der Zeit, als Ihr Vater nicht vorne in Bus sitzen durfte, hin zu einem schwarzen US-Präsidenten.
Das ist wahr, und ich bin mir sicher, er würde Obama anfeuern. Obama ist ein wunderbarer Mensch. Wir leben in Chicago übrigens in der gleichen Nachbarschaft. Mein Vater würde sich über diesen Wandel in Amerika sehr freuen.
Was hat ihm am meisten bedeutet: Die vielen Lobeshymnen in den späteren Jahren, die Orden – oder doch die vier Gold-Medaillen?
Er hat es alles genossen. Aber die vier Goldenen standen über allem. Er sagte, sie repräsentieren meine zwei Schwestern und mich, und natürlich unsere Mutter.
Also vier weibliche Goldmedaillen.
(lacht) So ist es!
Welcher Satz fasst Ihren Vater am besten zusammen?
Ich denke, der Spruch auf seinem Grabstein. „Ein Athlet und ein Humanitär. Ein Meister des Geistes und der Bewegungsabläufe im Sport. Ein Sieger, der wusste, dass Siege nicht alles bedeuten. Er bewies ungemeine Liebe für seine Familie und Freunde. Seine Errungenschaften haben uns allen die Verheißungen Amerikas gezeigt. Sein Glaube an Amerika inspirierte eine unzählbare Menge, aus sich das Beste herauszuholen. Für sich und ihre Heimat.“ So war mein Vater.
Interview: Matthias Kerber