Höhenangst! Absturz auf der Bergtour

Nach dem 1:2 gegen Kroatien kommt es für die Löw-Elf zum Endspiel gegen den Gastgeber Österreich. Es ist mehr verloren gegangen als nur ein Match.
Zwischendurch sah es aus, als wollte Bundestrainer Jogi Löw jemanden erwürgen. Und weil gerade niemand in Reichweite war, griffen seine Hände an die eigene Gurgel. Löw hat gelitten am Donnerstag. So wie selten. 1:2 hat die Nationalelf im zweiten EM-Gruppenspiel verloren gegen Kroatien. Das allein ist bitter. Mindestens ebenso schlimm sind die Folgen. Dem DFB-Team steht Montag gegen Gastgeber Österreich (20.45 Uhr, ARD) ein Endspiel bevor. Bei einer Niederlage wäre Deutschland raus.
Selbst wenn Löws Team weiterkommt: Die gestrige Pleite hat Konsequenzen, die im Turnierverlauf belastend werden können.
INNERE UNSICHERHEIT
Die Überzeugung, dass sie niemand aufhalten kann auf dem Weg zum Titel, haben Ballack & Co. selbst verspielt. An Christoph Metzelder etwa, dem Routinier von Real Madrid, war das gestern ganz gut abzulesen. Erst im Spiel, als er sich entnervt den Bart raufte. Und dann hinterher, als er sagte: „Wir sind keine Portugiesen, keine Spanier.Wir müssen für den Erfolg mehr tun.“ Das Selbstverständnis, Gejagter und nicht Jäger zu sein, war trügerisch. Sie waren sich offenbar zu sicher. Kapitän Michael Ballack ätzte: „Wir haben vielleicht gedacht,wir hätten schon etwas erreicht. Die Einstellung hat mich überrascht.“ Und: „Im Laufe des Spiels sind wir verkrampft und ängstlich geworden.“ Die Möchtegern-Gipfelstürmer spüren Höhenangst nach dem ersten Absturz bei der Alpen- EM. Dem Fan wird’s mulmig.
DIE AUSSENWIRKUNG
Wenn schon Kroatien (4,4 Millionen Einwohner) das deutsche Team zur Strecke bringt, wer soll da noch zittern? Der psychologische Vorteil, dass die Konkurrenz vor der zähen deutschen Turniermannschaft zittert, ist geschrumpft durch das 1:2. Das lässt sich in der internationalen Presse nachlesen. In Spanien etwa freut sich „Marca“: „Kroatien ist die schwarze Beste für die Deutschen.“ Vorher war das mal die Paraderolle der DFB-Elf.
FEHLENDE FÜHRUNG
Im Klagenfurter Regen wurde sonnenklar: Wenn Ballack und Torsten Frings, das Dominator- Duo im Mittelfeld, schwächelt, geht im ganzen Team nichts zusammen. Ballack ließ sich erstaunlichwehrlos von Kroaten-Kapitän Niko Kovac niederkämpfen. Frings gab zu: „Wir haben ohne jede Überzeugung gespielt. Wir haben uns viel zu wenig zugetraut.“ Wenn das ein vermeintlicher Anführer einräumt, bedeutet dies: Alarm!
DIE LANGE MÄNGELLISTE
Weil die Schwachstellen so eklatant und unübersehbar waren, auch für die Konkurrenz, benannte Löw sie gleich selbst: „Kein Tempo und keine Konsequenz in den Zweikämpfen. Nach dem Gegentor waren wir nicht in der Lage, das Tempo zu halten, hatten keine Präzision im Abspiel. In der zweiten Hälfte haben wir ohne Druck und Flanken gespielt. Zwischen Mittelfeld und Sturm bestand keine Kompaktheit. Zu viele hohe Bälle, schlechtes Spiel ohne Ball.“ Neben Podolskis 1:2 (79.) war diese Analyse der einzige deutsche Volltreffer des Abends.
DIE TORWART-DISKUSSION
War Jens Lehmann, 38 und mit wenig Spielpraxis ins Turnier gestartet, schuld am 0:2 durch Olic (62.)? Sicher ist, dass die Diskussion um ihn neue Nahrung erhält (s. a. nächste Seite). Für Löws Team heißt das: weitere Unruhe.
MISSGLÜCKTE PERSONALIEN
Auch Löws Standing hat gelitten. Galt nicht er als Taktik- Cleverle, der für riskante Maßnahmen stets belohnt wird? Für seinen Schachzug, Podolski beim Auftakt gegen Polen (2:0) im linken Mittelfeld zu bringen, hat ihn Poldi mit zwei Toren belohnt und die Öffentlichkeit mit viel Lob. Jetzt muss Löw aushalten, dass seine Strategie gegen Kroatien kritisiert wird: Der unsichere Linksverteidiger Marcell Jansen (er patzte bei Srnas 0:1) erwies sich genau so als Fehlbesetzung wie später der eingewechselte David Odonkor. Löw hat viel aufzuarbeiten bis zum Endspiel gegen Österreich. Zumindest weiß er nun, wo er ansetzen muss.
ill, ps