Historischer Wachwechsel in der Formel 1
Egal, wie’s ausgeht, man wird sich auf Tränen einstellen müssen. Michael Schumacher und Sebastian Vettel gehörten nie zu jenen Männern, die sich ihrer Tränen schämten, im Gegenteil. Gefühle, egal welcher Art, muss man rauslassen, das war schon immer die Devise dieser zwei Vollgas-Junkies. Und gefühlig wird es zugehen am Sonntag, wenn im brasilianischen Sao Paulo endgültig die geradezu wahnwitzige Formel-1-Karriere von Michael Schumacher zu Ende gehen wird.
Nach 21 Jahren, nach 308 Rennen, 91 Siegen und sieben gewonnenen Titeln geht Schumi, mittlerweile fast 44, in Rente. „Ich habe traumhafte Jahre erlebt“, sagt er, von dem sein Noch-Chef, Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug sagt, er gehöre zu den „zehn größten Persönlichkeiten unseres Planeten.“ Der erfolgreichste Formel-1-Fahrer aller Zeiten und das Idol vieler Jungs, die in den achtziger Jahren geboren sind, das ist Schumacher unbestritten.
"Michael war mein Held"
„Der Michael war der Held meiner Jugend“, sagt auch Sebastian Vettel, Jahrgang 1987. Und es ist schon mehr als nur eine Laune der Geschichte, dass Vettel sich genau an jenem Tag, an dem die rasende Ikone Schumi endgültig ausrollt, selbst in den Rang einer Formel-1-Legende heben kann. 13 Zähler beträgt sein Vorsprung in der Weltmeisterschaft vor dem 20. und letzten Saisonrennen in Sao Paulo vor Ferrari-Star Fernando Alonso. Wird Vettel mindestens Vierter, ist ihm der dritte Titel hintereinander nicht mehr zu nehmen.
Drei Weltmeisterschaften – das wären so viele wie Ayrton Senna, Nelson Piquet und Niki Lauda geschafft haben. Vier Titel weniger als Schumacher zwar, aber Vettel ist erst 25! Als Schumi zum ersten Mal Weltmeister wurde, war er ein Jahr älter. Nicht nur darum sagt Lauda: „Seb bricht alle Rekorde von Michael. Er kann sie nicht nur brechen, er wird sie brechen!“ Das wäre nur logisch.
Fast von Beginn an waren Schumachers und Vettels Karrieren miteinander verwoben, der Altmeister könnte sich keinen besseren Thronfolger vorstellen als Vettel. Schließlich hat er ihn selbst mit aufgebaut. 1994 kreuzten sich die Wege zum ersten Mal. Schumacher war mit Benetton-Ford gerade zum ersten Mal Weltmeister geworden, als er auf der heimischen Kartbahn in Kerpen-Manheim einem sieben Jahre altem schüchternem blonden Jungen mit Überbiss einen Pokal für ein gewonnenes Rennen überreichte.
Eine Horror-Saison
Die Vollgasszene hatte eine Horror-Saison hinter sich: In Imola war Ayrton Senna, die Rennfahrer-Ikone der späten Achtziger und frühen Neunziger Jahre tödlich verunglückt. Sennas Tod löste eine globale Trauer aus wie drei Jahre später der tödliche Unfall von Prinzessin Diana.
Doch Schumachers Aufstieg sorgte für einen nie da gewesenen Formel-1-Boom in Deutschland. Endlich stellte die Autofahrernation Deutschland zum ersten Mal auch den schnellsten Rennfahrer des Planeten. Dank Schumi wurde aus dem Land der Dichter und Denker, so schien es angesichts der Euphorie und der Lobeshymnen, eine Nation der Dichter und Lenker. Im ganzen Land wurden Kartbahnen gebaut, Kinder wollten nicht mehr Tennis spielen, sondern Rennfahrer werden. Zeitweise standen sieben deutsche Piloten im Feld.
Während Schumacher die Formel 1 revolutionierte, von Titel zu Titel raste und bei Ferrari zum bestbezahlten Sportler der Welt wurde, siegte sich ein Zahnspangenträger namens Vettel durch alle Nachwuchsklassen. Schumacher war immer informiert, die beiden hatten im Kerpener Karthändler Gerd Noack schließlich den gleichen Mentor und ersten Förderer.
Mechaniker Schumi traf auf Ingenieur Vettel
Als Schumacher 2006 zum ersten Mal die Formel 1 verließ, unterschrieb Vettel gerade seinen ersten Vertrag als Testfahrer bei BMW. Sein erster Spitzname in der Branche: Baby Schumi. Mentor und Thronfolger hatten sich knapp verpasst, so schien es. Doch Schumacher kehrte zurück, der Lehrmeister wollte es noch einmal wissen – und scheiterte grandios. Mercedes schaffte es drei Jahre lang nicht, ihm ein siegfähiges Auto zu bauen; doch auch Schumacher machte Fehler, verursachte Unfälle – und musste feststellen, dass er den Anschluss verloren hatte.
Er, zu dessen größten Stärken die Fähigkeit gehörte, sein Team einzuschwören und ein so großes technisches Verständnis wie sonst keiner hatte, traf auf Piloten, die am Simulator groß geworden sind. Schumi, der Kfz-Mechaniker, traf auf fahrende Ingenieure wie Vettel. Was Schumi früher intuitiv richtig machte, unterfüttert Vettel, der Maschinenbau studieren wollte, mit fundiertem Wissen. Die Revolution frisst ihre Kinder? Richtig so.