Historischer Spaziergang

Usain Bolt läuft die 100 Meter in 9,69 Sekunden und lässt sich am Ende sogar noch Zeit. Doch lag es wirklich nur an panierten Hendlstücken und der Yam-Wurzel? Oder gibt es eine Wurzel allen Übels?
von  Abendzeitung
Neben so einer Zeit kann man sich natürlich sehen lassen. Der Jamaikaner Usain Bolt genießt das sichtlich.
Neben so einer Zeit kann man sich natürlich sehen lassen. Der Jamaikaner Usain Bolt genießt das sichtlich. © Bongarts/Getty Images

Usain Bolt läuft die 100 Meter in 9,69 Sekunden und lässt sich am Ende sogar noch Zeit. Doch lag es wirklich nur an panierten Hendlstücken und der Yam-Wurzel? Oder gibt es eine Wurzel allen Übels?

PEKING Der schnellste Mensch der Welt kam nur langsam voran. Eine Stunde nach dem Rennen, als Usain Bolt in den Katakomben des Olympiastadions vorbei musste an Kameras und Mikrofonen. 27 Minuten brauchte er für 50 Meter, es war mühsamer als zuvor draußen auf der Bahn, bei den 100 Metern in 9,69 Sekunden.

Neunneunundsechzig. Nie war ein Sterblicher schneller.

Und doch schien es für Bolt ein gemächlicher Spaziergang. Ein historischer Abendbummel zum Weltrekord.

Statt des erwarteten Dreikampfs wurde es eine Ein-Mann-Gala. Tyson Gay im Halbfinale raus, Asafa Powell im Endlauf nur Fünfter. Eine Demütigung für die Konkurrenz, wie der 21-Jährige schon 20 Meter vor dem Ziel abbremste. Stunden später, um halb 3 Uhr früh, sah man in der Kantine des Pressezentrums immer noch viele Journalisten jene Momente nachspielen, die in die Sportgeschichte eingehen werden. Wie Bolt, weit vor dem Ziel die Hände ausbreitete, sich auf die Brust klopfte und dann in Schrägfahrt ins Ziel einlief. Wobei die Reporter dann noch immer ungläubig den Kopf schüttelten. Anders als Bolt.

Bolt war nämlich wenig überrascht von seiner Zeit. Auf die Frage, warum er denn nicht durchgelaufen wäre, um unter 9,60 zu erreichen, sagte er: „Mir ging es nicht um die Zeit, ich wollte Olympiasieger werden. Dieser Sieg bedeutet meinem Land eine Menge.“ Das tat er.

Daheim hatten die meisten der 2,7 Millionen Jamaikaner den Lauf auf großen Leinwänden verfolgt. In Europa machten die Menschen während der Fußball-EM Public Viewing für 90 Minuten plus Nachspielzeit. In Jamaika für nicht einmal zehn Sekunden.

Auch Papa Wellesley jubelte daheim in Sherwood Content in der Provinz Trelawney und nannte als Erfolgsrezept ein regionales Knollengewächs, die Yamwurzel, die einer Süßkartoffel ähnelt. „Die Trelawney Yam macht ihn so stark“, sagte der Papa stolz, „die hat so viele Kohlenhydrate.“ Bolt selbst meinte später, er habe vor dem Rennen den Tag über nichts gegessen, außer zweimal Chicken Nuggets. Aber lag diese Leistung wirklich an panierten Hendlstücken und an der wundersamen Yam-Wurzel? Oder gibt es nicht noch eine andere Wurzel, eine Wurzel allen Übels?

Einer, der die 100 Meter bis zu diesem Jahr nie unter zehn Sekunden lief und plötzlich seine Bestzeit um mehr als drei Zehntel pulverisiert. Auf 9,72 Ende Mai, jetzt auf 9,69. Bolts Leistungsexplosion gibt Rätsel auf. Bemerkenswert war da der Kommentar der „China Daily“, die Bolt über jeden Verdacht erhaben sah. Das Blatt, nicht nur dem Regime hörig, sondern auch den Olympia-Machern (was fast das gleiche ist) schrieb: „Wenn die Leichtathletik einen Moment gebraucht hat, um nach Jahren der Dopingskandalen zurück auf die richtige Bahn zu kommen, dann war es gestern Abend.“ Andererseits: Glaubt man dem berüchtigten Doping-Dealer Angel Heredia, der jüngst gesagt hatte, von den acht 100 Meter-Finalisten seien eh „alle acht gedopt“, dann war es zumindest große Unterhaltung.

„Wir werden oft getestet, wir sind absolut sauber. Usain ist ein Naturtalent“, sagte Herb Elliott, Jamaikas Teamarzt, nach dem Rennen zur AZ und bemühte einen Vergleich zur Kunst: „Toscanini hat einmal gesagt, die Stimme von Marian Anderson gibt es einmal in 100 Jahren. Das gilt auch für Usain.“ Auch wenn Mr. Elliott da sicher eher das Laufen meinte als das Singen.

Wie schnell er noch laufen kann, wenn er anzieht bis zum Schluss, wollten weder Elliott und Bolt prophezeien. „Das weiß niemand“, meinte der Doktor. Ein neuer Weltrekord durch Bolt wird sicher kommen. Bolt kann es machen wie am Samstag bei seinem Fabellauf. Er kann sich Zeit lassen. Florian Kinast

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