Helga Hengge: "Ich hatte das Gefühl, für den Berg zu klein zu sein"
Vor 50 Jahren standen Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay als erste Menschen auf dem Gipfel des Mount Everest. 1999 erreichte Helga Hengge als erste deutsche Frau den höchsten Berg der Welt. Drei Jahre zuvor hatte die Moderedakteurin, die in New York arbeitete, mit dem Extrembergsteigen begonnen.
AZ: Frau Hengge, was bedeuten die Berge für Sie?
HELGA HENGGE: Berge sind für mich Herausforderung, Abenteuer und Ruhepol – und eine Reise zu mir selbst.
Wie sportlich waren Sie, als Sie mit dem Extrembergsteigen begannen?
Ich war normal sportlich. In New York bin ich viel gebladet und habe Yoga gemacht.
Das prädestiniert einen ja nicht gerade zum Höhenbergsteiger!
Nicht unbedingt. Aber als ich mit dem Klettern anfing, habe ich schnell gemerkt, dass das mein Sport ist. Ich bin schlank, leicht und meine Armspannweite übersteigt meine Körperhöhe.
Und wie kamen Sie zum Höhenbergsteigen?
Ich habe ein Buch über die Seven Summits gelesen, die höchsten Gipfel der Kontinente. Da ist der Traum entstanden.
Sie haben ihn umgesetzt.
Ja! Ich habe mir den Aconcagua in Argentinien vorgenommen, 6960 Meter. Irgendwas an ihm hat mich fasziniert. Auf der normalen Route ist er technisch nicht anspruchsvoll, aber die Höhe und die eisigen Winde machen ihn zur Herausforderung.
Nicht gerade vernünftig!
Nein, nicht wirklich. Und ich kann nur davon abraten, so zu starten. Es ist besser, sich der Höhe langsam zu nähern, denn sie ist brutal. Als wir zum ersten Mal über 5000 Meter kamen, bin ich weinend zusammengebrochen. Es war, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen. Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen und alle Kraft war fort. Nur meinem Team habe ich es zu verdanken, dass ich nicht sofort nach Hause gefahren bin.
Aber Sie haben sich schon auf den Berg vorbereitet?
Ja, klar! Der Expeditionsleiter hatte mir ein Trainingsprogramm verordnet. Für die Ausdauer begann ich jeden Tag 15 Minuten zu joggen und steigerte mich auf eine Stunde fünfmal die Woche. Für die Kraft bin ich jeden zweiten Tag auf den Stepper gegangen, mit Gewichten im Rucksack. Anfangs fünf Minuten mit zehn Kilo, später 45 Minuten mit 20 Kilo.
Waren Sie am Aconcagua höhenkrank?
Ja, zum ersten Mal in meinem Leben. Ich hatte alle Anzeichen für den herannahenden Zusammenbruch übersehen, weil ich keine Erfahrung mit der Höhe hatte. Ich werde auch heute noch höhenkrank, aber nie mehr so schlimm, weil ich die Anzeichen früher erkenne und entgegenwirke. Mein Körper akklimatisiert sich leider nur sehr langsam und gerade am Start einer Expedition muss ich meinen Ehrgeiz zurückschrauben, den Aufstieg in Etappen einteilen, kleine Schritte machen, mehr Pausen einbauen und immer wieder etwas essen, auch wenn ich keinen Appetit habe.
Diese Erfahrung hat Sie auf den Mount Everest gebracht?
Ja. Nach sieben 6000ern in den Anden und im Himalaya war ich endlich auf meinem ersten 8000er, dem Cho Oyu. Als wir die 7000 Meter Grenze überschritten, habe ich plötzlich alle überholt und mich in der dünnen Luft endlich wohl gefühlt.
Aber der Aufstieg auf den Mount Everest war trotzdem sehr hart?
Und wie. Es gab in den zwei Monaten am Berg einige Tage, wo ich am liebsten nach Hause gefahren wäre, wo es mir zu kalt und zu anstrengend war und ich das Gefühl hatte, zu klein für diesen Berg zu sein. Das gehört dazu. Davon darf man sich nicht entmutigen lassen.
War nach dem Mount Everest Schluss mit dem Höhenbergsteigen?
Nein, ich bin danach noch auf drei 8000er-Expeditionen gegangen. Erst 2003 bin ich zu den Seven Summits zurückgekehrt und im Mai 2011 konnte ich meinen Traum endlich verwirklichen.
Wie fit sind Sie heute?
Von meiner Everest-Fitness bin ich weit entfernt, aber ich jogge dreimal pro Woche und gehe sehr viel klettern.
Was raten Sie Hobby-Bergsteigern?
Nur das zu wagen, was man sich zutraut – und auf seinen Körper zu hören und sich nicht zu viel zuzumuten, sonst geht die Liebe verloren – und die braucht man für die Berge, die Liebe zur rauen Natur und Respekt vor ihren Gewalten.
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