Hartings wilde Nacht

Der Diskuswurf-Sieger feiert seine Goldmedaille ausgiebig. Doch nachts kommt er nicht mehr ins Olympische Dorf – weil er seine Akkreditierung irgendwo zwischen Party und U-Bahn verliert.
Thomas Becker |
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Es war spät geworden auf dem Traumschiff. Robert Harting wollte ins Bett. Es war ein langer Tag, ein verdammt aufregender dazu. 28 Wettkämpfe in Serie hatte er zuvor gewonnen, und ausgerechnet bei Olympia wollte ihn so ein Iraner besiegen. Frech, der Typ. Aber dann hatte der Favorit es im vorletzten Versuch doch noch geschafft: Gold, Gott sei Dank!
Von Interview zu Interview wurde er danach rumgereicht, musste noch ins TV-Studio zu später Stunde, ins Deutsche Haus auch noch - bis er endlich mit den Kumpels feiern konnte, auf der „MS Deutschland“. Und dann war sie weg, die Akkreditierung. Aber das merkte der Olympiasieger erst, als er vor dem Olympischen Dorf stand - und nicht reinkam.
Sportsoldat Harting (Wehrsold: 1800 Euro im Monat) hatte spät nachts keine Lust auf den Fahr-Service. Auf Taxi erst recht nicht. Nimmt er daheim in Berlin ja auch nicht. Harting wollte U-Bahn fahren. Marschierte also die paar Meter vom Traumschiff zum West India Quay, vorbei am Marriott Hotel, stieg in die Docklands Light Railway, erwischte die richtige Richtung, also nicht runter nach Lewisham, auch nicht Richtung Tower und erst recht nicht noch tiefer in den Osten nach Beckton, sondern hoch nach Stratford, sieben Stationen. Eine Stunde habe er in der Bahn geschlafen, erzählte er später, stand dann irgendwann vor den Toren des Olympischen Dorfes - und suchtevergebens seine Akkreditierung. Der Reisepass half auch nicht: „No entrance!“, hieß es. Am Tag danach erinnerte er sich: „Ich hatte die Akkreditierung abgelegt, als ich mich den Gästen widmete. Wenn ich den Kerl erwischt hätte, er hätte schwimmen  müssen. Die Themse war in der Nähe. Auf die Goldmedaille werde ich besser aufpassen.“
In seiner Not klingelte Harting nachts Thomas Kurschilgen aus dem Bett - um viertel nach fünf. Der Sportdirektor der Leichtathleten mühte sich um eine Ersatz-Akkreditierung - zwei Stunden später war er erfolgreich, und Harting durfte endlich ins Bett. Nur gut, dass er schon nachts im Deutschen Haus die Sieger-Pressekonferenz morgens um neun abgesagt hatte - weil er Karten für die Kanu-Wettbewerbe hatte. Die mussten ohne ihn auskommen: „Das wird leider nix. Ich muss erstmal ins Bett.“ Nach einem Frühstück („drei Stücke Pizza, ein Hamburger und eine Cola“) legte er sich  nochmal vier Stunden aufs Ohr, fand aber noch Zeit zum Twittern: „Wurde gerade bestohlen, während ich ein paar Olympia-Fans einen Gefallen tat. Ich habe all meine Zugangsberechtigungen für das Olympische Dorf verloren – kein Eintritt.“
Ausgeraubt ist er nicht worden, aber vergessen wird Harting diese Nacht wohl nie mehr. Erst der Nervenkampf im Stadion mit dem Iraner (Harting: „Ein Schachspiel, sehr strategisch“), dann das große Hallo im Deutschen Haus samt gülden eingehüllter 1,5-Liter-Schampus-Pulle und Dutzender weiblicher Autogrammjägerinnen. Als er mit einer Amerikanerin mit Diskuswerfer-Statur und Spaghetti-Träger-Top zum Foto posierte, quiekte die Mollige: „Sex!“ Nach einer halben Stunde rauschte Harting wieder ab, rüber aufs Schiff, in den Champions Club.
Dort ging es fröhlich zu. Mutter Bettina und Vater Gerd hatten dem Bub eine Torte mitgebracht: „Gold für Harting London 2012“ stand darauf. Die Eltern trugen wie schon bei WM und EM ihre T-Shirts mit dem Aufdruck Supervater und Supermama und knutschten dem Filius herzhaft auf die Wangen. Auch Trainer Werner Goldmann und Helge Veit, Silvano Klee, Amelie Kinner und Steven Gürth vom Fanklub „Der Harting“ feierten mit. Es gab Cuba Libre. Und es wurde richtig schön spät.

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