Haases Post-Olympia-Depression: Wenn der Sport zur Last wird

Die deutsche Top-Sprinterin Rebekka Haase fiel nach den Spielen von Tokio in ein mentales Loch. Hilfe bekam sie bei Tanja Damaske, früher erfolgreiche Speerwerferin und heute Team-Psychologin des DLV.
von  Florian Kinast
Christina Obergföll (l.) und  Tanja Damaske.
Christina Obergföll (l.) und Tanja Damaske. © imago sportfotodienst (imago sportfotodienst)

München - Diese Woche kehrte Tanja Damaske wieder ins Olympiastadion zurück. In ihrer aktiven Karriere startete sie hier zweimal, 1992 bei den Deutschen Meisterschaften, fünf Jahre später im Europacup. Damaske war eine der weltbesten Speerwerferinnen, 1997 holte sie WM-Bronze, 1998 in Budapest EM-Gold.

Bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in München ist sie nun als Betreuerin vor Ort, allerdings kümmert sie sich nicht um Anlauftechniken und Abwurfwinkel, um Kondition und Tempotraining. Sondern um den mentalen und seelischen Zustand der Sportler. Damaske ist die Team-Psychologin des deutschen Leichtathletikverbands.

Rebekka Haase: "Die Post-Olympia-Depression haben viele zu spüren bekommen"

Kurz vor der EM hörte man ihren Namen bei einem Medientermin des DLV. Sprinterin Rebekka Haase hatte offen über ihre mentalen Probleme nach Olympia 2021 gesprochen, nach Tokio sei sie in ein tiefes psychisches Loch gefallen. "An Tag eins nach Olympia steht man ohne Boden da und fragt sich: Und jetzt?", erklärte Haase. "Du bist zu nichts mehr in der Lage und orientierungslos." Und als es darum ging, wer ihr neben ihrem privaten Umfeld am meisten geholfen habe, in einem "harten, heftigen und ekligen Prozess", da sagte sie: Tanja Damaske.

Es war ein "harter, heftiger und ekliger Prozess" für Rebekka Haase.
Es war ein "harter, heftiger und ekliger Prozess" für Rebekka Haase. © dpa

Am Dienstagnachmittag sitzt die 50-Jährige auf der Terrasse des deutschen Mannschaftshotels an der Moosacher Straße – und erzählt im Gespräch mit der Abendzeitung, dass Haase kein Einzelfall gewesen sei. "Die Post-Olympia-Depression haben viele zu spüren bekommen", sagt sie und erklärt dies mit der pandemiebedingten, einjährigen Verschiebung der Spiele auf 2021.

"Die Sportler waren in ihrem Kopf fokussiert auf 2020. Die Anspannung für dieses Projekt aufrechtzuhalten, nicht runterzufahren, sondern ein weiteres Jahr funktionieren zu müssen: Das führte dazu, dass das Loch, in das sie unmittelbar danach fielen, umso größer war." Und dazu, dass sie selbst mehr zu tun und mehr Gespräche zu führen hatte, als sie sich das zuvor gedacht hatte.

Doch es ist ja nicht nur punktuell die nacholympische Leere, die die Sportler belastet.

Man muss die eignen Grenzen erkennen

Eine der ersten Studien der Deutschen Sporthochschule zu psychischen Problemen im Leistungssport sorgte 2013 für großes Aufsehen: Eine Untersuchung, die endgültig aufräumte mit der albernen Mär, Spitzenathleten seien wegen ihrer körperlichen Robustheit immun gegen seelische Beschwerden. Man las von Essstörungen, Angstzuständen, Burn-Out und depressiven Erkrankungen. Eine breite Palette an verschiedenen Symptomen, die auch in der deutschen Leichtathletik Sportler plagen, die bei Tanja Damaske um Rat suchen – und die dann mit unterschiedlichen Techniken zu helfen versucht. "Jeder Sportler, jeder Mensch ist anders", sagt sie und spricht von kognitiven Umstrukturierungen, von speziellen "Tools" wie Stoppschildern, die die negative Abwärtsspirale ausbremsen und den Weg frei machen sollen für ein neues positives Denken.

"In der Psychologie spricht man von rund 430 Selbststeuerungsstrategien", erklärt Damaske, "herauszufinden, welche wann bei wem funktioniert, das ist die große Kunst."

Manchmal muss sie aber auch ihre eigenen Grenzen erkennen. Wenn es sich wirklich um eine manifestierte und diagnostizierte Depression handelt, dann seien für die Behandlung der Krankheit die Spezialisten gefragt, Psychiater und Therapeuten. Ganz egal, ob sie ihre Sportler betreut. Oder ihre Soldaten.

Machte ihre Depressionen öffentlich: Tennis-Star Naomi Osaka.
Machte ihre Depressionen öffentlich: Tennis-Star Naomi Osaka. © dpa/CSM via ZUMA Press Wire

Denn im Hauptjob arbeitet die beim Leichtathletikverband nur nebenberuflich angestellte Damaske als Psychologin bei der Bundeswehr. Auch wenn die existenzielle Dimension eine andere ist, die Furcht davor, ob man bei einem Auslandseinsatz auf eine Mine steigt oder ob im 100-Meter-Vorlauf nur Fünfter wird: Die belastenden Auswirkungen von Stress, Druck und Angst auf die Seele, den Geist, den gesamten Organismus seien ähnlich.

Thema wird im Spitzensport immer mehr enttabuisiert

Tanja Damaske ist froh, dass das Thema nun auch im Spitzensport immer mehr enttabuisiert wird, dass Athleten den Mut finden, offen über sich und ihre Schwierigkeiten zu sprechen. Dass es nicht mehr als ein Eingestehen von Schwäche interpretiert und belächelt wird. Sondern dass Sportlerinnen wie Turnstar Simone Biles oder Tennisspielerin Naomi Osaka mit ihren Äußerungen über eigene mentale und psychische Probleme Vorbilder sind. Prominente Protagonistinnen als Türöffner, um sich nicht mehr verschließen zu müssen, vor sich selbst und der ganzen Welt.

Auch vor der EM in München baten viele deutsche Leichtathleten Tanja Damaske um ein Gespräch, manches passiert aber auch noch während dieser Woche auf kurzfristigen Zuruf im Hotelflur. "Manche sagen ganz kurzfristig vor dem Wettkampf: Ich muss mit dir reden, ich brauche bitte noch einen Tipp", sagt sie. "Manchmal geht es ihnen auch einfach nur darum, dass sie durch den Kontakt mit mir ein gutes Gefühl bekommen."

Ihr selbst, sagt sie zum Schluss noch, gehe es weniger darum, dass die von ihr betreuten Sportler alle eine Medaille holen – sondern dass sie als Persönlichkeit, als Mensch wieder mit sich im Reinen sind.

Rebekka Haase, die erst im März das erste Mal nach Olympia wieder auf der Laufbahn stand, erreichte in München immerhin das Halbfinale, am Sonntag hofft sie auf Edelmetall mit der Staffel. Es geht ihr wieder deutlich besser, was auch ein Verdienst von Tanja Damaske war, die ihr geholfen hat. Raus aus dem Prozess, der heftig, hart und eklig war.

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