Grapschen, brüllen, drängeln: Neuners Gold-Leiden

Gewinnen ist ja herrlich. Aber danach ist sich die Biathletin wie Schlachtvieh vorgekommen. Acht Stunden wird sie herumgereicht. Für Freude, Freunde und Familie bleibt vorerst kaum Zeit.
Von Florian Kinast
Gestern konnte Magdalena Neuner endlich ausspannen. Kein Training mehr, nach ihrem Verzicht auf die Staffel ist Olympia für sie vorbei. Und damit haben auch die Stunden nach dem Rennen ein Ende. Die zähen Stunden.
Vor allem, wenn die Sportler so behandelt werden wie hier, wo die Offiziellen die Athleten angrapschen, anbrüllen und mit ihnen umgehen wie mit „Schweinen auf dem Weg zur Schlachtbank“, wie Neuner nach ihrem zweiten Biathlon-Gold klagte (AZ berichtete).
Doch was passiert wirklich nach dem Wettkampf? Wie geht es weiter, wenn das Rennen zu Ende und Gold gewonnen ist? Der AZ-Report, die ersten acht Stunden im Leben eines Olympiasiegers von Vancouver, erzählt am Beispiel von Magdalena Neuner nach dem Massenstartrennen.
13.35 Uhr, Zieleinlauf:
Nach 35 Minuten Laufzeit wartet wenige Meter hinter der Ziellinie der Chaperon, der Anti-Doping-Beauftragte des Organisationskomitees VANOC, das vom IOC mit der Durchführung der Kontrollen beauftragt wurde. Der Chaperon schreit Neuner den englischen Text eines kleingedruckten DIN-A4-Zettels ins Gesicht, die drohenden Konsequenzen bei Betrug, Sperren, Geldstrafen. Noch außer Atem muss Neuner unterschreiben, unten rechts. Ab Zieleinlauf haben die Sportler genau eine Stunde Zeit bis zum Dopingtest, bis dahin weicht der Chaperon nicht von der Seite. Angefasst von weiteren VANOC-Offiziellen werden die Athleten dann im militärischen Laufschritt in ein Zelt gezerrt. Dort brüllt ein Betreuer herum, es geht um die Formalitäten der folgenden
13.45 Uhr, inoffizielle Siegesfeier:
Es gibt noch keine Medaillen, nur Blumen. Danach auf und vor dem Podium einminütiges Fotoshooting für Dutzende von Fotografen. Bis dahin dürfen sich die Athleten nicht umziehen, geschweige denn Trainer, Betreuer oder gar Verwandten kontaktieren. Weshalb Bundestrainer Uwe Müssiggang in diesen Tagen oft durch die abgesperrten Korridore im Zielraum irrte und auch die Reporter fragte: „Habt ihr die Lena gesehen?“
14 Uhr, erste Interviews:
Mit den Blumen in der Hand geht es in die Broadcast-Zone, dort wartet der Medienkoordinator des Verbands, beim Biathlon Stefan Schwarzbach, dann geht es vor die Kameras und Mikrofone der TV-Sender. Das zieht sich zum Leidwesen der Print-Journalisten meist hin, die sind danach in der Mixed-Zone dran. Erste O-Töne, drei, vier Antworten zum Durchkabeln in die Redaktion.
14.30 Uhr, Pressekonferenz, kurz PK genannt:
Kurz vor Ablauf der einen Stunde bis Dopingtest. Neuner beantragt beim Chaperon eine „Extension“, eine Verlängerung, sie bittet um 40 Minuten. Der Aufpasser ruft den Doping-Oberboss an, der sagt: „No, just 20 minutes.“
Die Pressekonferenzen sind international, auf dem Podium sitzen Übersetzer, jede Frage, jede Antwort wird übersetzt, englisch, manchmal auch französisch. Das kann dauern. Daher hier längst die Absprache unter den Kollegen: Keine Fragen bei der PK. Denn: Je kürzer Neuner auf dem Podium sitzt, desto mehr Zeit danach für eine längere Fragerunde im Stehen. An improvisiertem Ort. 2006 bei den Olympia-Biathleten in San Sicario war das eine blaue Mülltonne vor dem Pressezelt, da lautete die Ansage dann: „Die Uschi Disl, in zwei Minuten bei der Tonne.“ Und jeder wusste Bescheid. Hier im Whistler Olympic Park ist es im Pressezelt zwischen zwei langen Reihen Schließfächern.
14.50 Uhr, Dopingtest:
Kurz vor Ablauf der 80 Minuten Eintreffen bei der Kontrolle. Viel Wasser trinken, nach einer halben Stunde ist das Röhrchen voll. Danach wartet der Shuttle-Bus, ein Kleinwagen, Rückfahrt ins Olympische Dorf.
16 Uhr, Ankunft im Zimmer:
Ausspannen, duschen, erholen. Die erste Zeit für sich ganz allein. Erste Telefonate mit daheim, SMS schreiben, E-Mails. Endlich Pause.
17.30 Uhr, Abfahrt zur Siegerehrung:
Zusammen mit Simone Hauswald, der Drittplatzierten. Vor dem Olympischen Dorf wartet der Shuttle-Bus von VANOC. Ab zur Medal's Plaza, fünf Kilometer rauf nach Whistler. Sportler, deren Wettkämpfe erst am Abend enden, bekommen Edelmetall erst tags darauf. Manchmal gibt's die Medaillen auch gleich vor Ort, wie etwa bei den Eiskunst-Paarläufern im Pacific Coliseum unten in Vancouver.
17.45 Uhr: Ankunft:
Wie vorgeschrieben 75 Minuten vor Beginn der Zeremonie. Bis dahin entspannen die Athleten im so genannten „Green Room“, ein kleines Zelt. Gelegenheit zum Austausch, Neuner plaudert mit Alpin-Kombi-Sieger Bode Miller, einem ihrer großen Vorbilder.
19 Uhr, Siegerehrung:
Es gibt Medaillen und die Hymne, danach noch viele Fotos, Händeschütteln, Autogrammwünsche. Dann wartet das Shuttle des DOSB.
20.15 Uhr: Ankunft im Deutschen Haus:
Im Golfclub North Whistler. Antanzen zur nächsten PK in der Medien-Lounge. Nach den ersten Akut-Reaktionen am Nachmittag geht es nun um Gefühle bei der Siegerehrung, die Bedeutung des Erfolgs und die möglichen Auswirkungen auf das Leben. Ein Kollege, der den Termin schwänzt, meint vorher noch: „Hingehen lohnt nicht, die sagen doch eh immer das Gleiche.“ Oft schon, an jenem Abend irrt er. Neuners plötzliche Ansage, auf die Staffel zu verzichteten, das ungläubige Staunen der Reporter, der dramaturgische Höhepunkt aller bisherigen PKs.
21 Uhr, Ende der Pressekonferenz:
Nun wieder TV-Interviews, drei Fragen, dann ab in den abgetrennten Hospitality-Bereich des Golfclubs. Da steht eine hölzerne Eckbank im Bayern-Look, da wartet Waldemar Hartmann auf Neuner und Hauswald. Das Gespräch wird aufgezeichnet fürs Frühstücksfernsehen.
21.30 Uhr, Kufenstüberl:
Nun hat es Neuner geschafft. Rüber auf ein Weißbier ins Kufenstüberl, einem eigenen Raum des Golfclubs. Hier gelten eigene Regeln. Hier kann sich kein Tourist einkaufen wie im Deutschen Haus, hier sollen die Sportler den Abend ausklingen lassen, bei einem Bier oder vielen. Ungestört. Gut so. Wenn sie noch ungezwungen mit einem Reporter reden wollen, können sie das tun, wenn nicht, dann nicht. Wer sich als geifernder Berichterstatter aufmandelt und dem Athleten penetrant ein Mikro unter die Nase hält, fliegt raus und riskiert Stüberlverbot auf Lebenszeit.
Rein kommen bei Hausherr Rudi Größwang eh nur wenige Journalisten, die Kriterien sind bei dem Berchtesgadener streng, Grundvoraussetzungen sind dezentes Benehmen und bairischer Dialekt.
Kollegen aus Sachsen oder dem Rheinland tun sich da schwer, man hört, sie sollen inzwischen in Online-Crash-Kursen Bairisch büffeln. O-ach-katzl-schwo-af. Die Zeit drängt. Samstag macht das Kufenstüberl zu.
Sonntagabends, um halb zehn in Whistler, hat Neuner dann jedenfalls ihre Ruhe. Genau acht Stunden nach dem Sieg. Acht Stunden, die anstrengender sind als die 35 Minuten auf der Strecke. Stunden, in denen sich Magdalena Neuner manchmal wie Schlachtvieh vorkommt.
Florian Kinast