Goldene Zeiten: Doppel-Triumph im Hexenkessel Olympia-Stadion

Sensation! Gina Lückenkemper sprintet zum EM-Titel. Zehnkämpfer Niklas Kaul ist Europas neuer König der Leichtathleten - auch dank des Faktors München! "So eine Stimmung habe ich noch nie erlebt."
von  Florian Kinast
Zehnkampf-Europameister Niklas Kaul feiert mit der Nationalfahne.
Zehnkampf-Europameister Niklas Kaul feiert mit der Nationalfahne. © dpa

München - Für Familie Kaul wurde es spät. Erst um halb zwei nahmen die Eltern Michael und Stephanie ihren Niki, wie sie ihren Sohn immer nennen, vor dem Olympiastadion in Empfang.

Lange Nacht für Niklas Kaul

Danach ging es in eine Sponsoren-Lounge am Olympiasee auf einige Gläser Bier. Um vier Uhr morgens war Niklas Kaul dann im Teamhotel an der Moosacher Straße. Bis er einschlafen konnte, meinte er am Tag danach, sei es nach fünf gewesen. Es dauerte, bis all das gesackt war, was er erlebt hatte, an einem triumphalen Abend im Hexenkessel des Münchner Olympiastadions.

Zwei Goldmedaillen für deutsche Leichtathleten

Die beiden Goldmedaillen für die deutsche Leichtathletik binnen einer Dreiviertelstunde, die zwei EM-Titel durch Kaul im Zehnkampf und wenig später durch Gina Lückenkemper über die 100 Meter, das war der bisherige Höhepunkt der gesamten European Championships in München, wenngleich die Sprinterin auf einen entspannten Absacker in einer lauen Sommernacht verzichten musste.

Gina Lückenkemper, die aktuell schnellste Frau des Kontinents.
Gina Lückenkemper, die aktuell schnellste Frau des Kontinents. © dpa

Sturz nach dem Zieleinlauf

Nach dem Zieleinlauf war sie gestürzt, hatte sich mit den Spikes eine Fleischwunde ins linke Knie getreten, die in der Polyklinik des Klinikums rechts der Isar mit acht Stichen genäht werden musste, um 1.10 Uhr traf sie wieder im Hotel ein, begeistert empfangen vom Rest der Mannschaft.

Drei neue Erfahrungen

"Es war super spannend und interessant", scherzte Lückenkemper am Mittwoch. "Ich war ja noch nie in einem Krankenwagen und in einer Notaufnahme." Und Europameisterin war sie bis Dienstag auch noch nicht. Also gleich drei neue Erfahrungen an einem Abend.

Gewaltige Atmosphäre unterm Zeltdach

So unterschiedlich die Stunden nach ihren Triumphen für beide also liefen, so einhellig schwärmten die beiden neuen Titelträger von der gewaltigen Atmosphäre unterm Zeltdach, einem epischen Abend für die Ewigkeit. "So eine Stimmung über zwei Tage habe ich noch nie erlebt", sagte Kaul, der mit seinem Speerwurf über 76,05 Meter und seinem finalen Fabellauf über die 1.500 Meter das Stadion zum Beben brachte, am Tag danach.

Kaul verkalkulierte sich

Dabei hatte sich Kaul während seines Laufs verkalkuliert, ging die ersten 1.000 Meter fünf Sekunden schneller an als gedacht und fürchtete bereits einen kompletten Einbruch auf dem letzten Drittel. Doch dann lief er leichtfüßig federnd und fast lächelnd ins Ziel. "Wahrscheinlich war es das Publikum, das mich getragen hat."

Mit seinem Fabel-Wurf über 76,05 Meter brachte Niklas Kaul das Olympia-Stadion zum Beben - und sich endgültig auf die Siegerstraße.
Mit seinem Fabel-Wurf über 76,05 Meter brachte Niklas Kaul das Olympia-Stadion zum Beben - und sich endgültig auf die Siegerstraße. © dpa

Im Publikum war Niklas Kaul vor 20 Jahren selbst noch gesessen, wie Vater Michael am Mittwoch der AZ erzählte. Damals kam er als kleiner Bub von vier Jahren mit seinen Großeltern als Zuschauer zur Leichtathletik-EM 2002 ins Olympiastadion und verfolgte die Wettkämpfe.

Das Olympiastadion wurde vorab besichtigt

Dass schon die Atmosphäre damals eine Initialzündung für die Begeisterung des Niki zur Leichtathletik gewesen sei, meinte Michael Kaul und berichtete, dass sein Sohn im Frühjahr nach München gefahren sei, einfach nur vorab schon einmal das Olympiastadion zu sehen. "Er saß lange auf der da noch leeren Tribüne und wollte schon einmal ein Gespür für den Ort entwickeln", so Vater Kaul. Dass die Stimmung dann an seinem großen Abend aber so überwältigend sein würde, hatte sich aber auch sein Sohn nicht gedacht. "Besser, als ich mir es je vorgestellt hätte."

Triumph nach vielen Rückschlägen

Für Kaul wie für Gina Lückenkemper war der Triumph von München mehr als nur eine Rehabilitierung für die schwache WM in Eugene, bei der die Sprinterin immerhin Bronze mit der 4x100-Meter-Staffel geholt hatte, die ansonsten in ihrer Karriere schon viele Rückschläge zu verarbeiten hatte. Nach EM-Silber 2018 folgten Verletzungen und Formtiefs, bei Olympia 2021 in Tokio war sie nur Ersatzläuferin.

Komplizierte Pandemiezeiten

Kompliziert wurden die Jahre in Pandemiezeiten, erst im November 2019, wenige Monate vor der Corona-Zeitrechnung, hatte sie sich der Trainingsgruppe von Lance Braumann in Florida angeschlossen, an der Seite von 200-m-Weltmeister Noah Lyles oder 400-m-Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo. Lockdowns und Reisebeschränkungen erschwerten die gemeinsame Arbeit, umso erstaunter war die 25-Jährige über den Sensationserfolg von München.

Die jubelnde Menge setzte entscheidende Energie frei

"Wenn jemand vor einem Jahr, wo es nach wie vor schwierig für mich war, so an mich geglaubt hätte, hätte ich diesen Menschen unfassbar gefeiert". Geholfen habe ihr aber auch der Erfolg von Niklas Kaul kurz vor ihrem Endlauf. Die jubelnde Menge zu hören, meinte sie, das habe vielleicht die entscheidenden fünf Zehntel freigesetzt, die sie am Ende vor der Schweizerin Mujinga Kambundji lag.

Kritik an der Nachwuchsarbeit

Kurz kamen am Mittwoch dann aber auch nochmal Misstöne auf, als Lückenkemper wie schon nach der WM in Eugene die Nachwuchsarbeit in der deutschen Leichtathletik kritisierte. "Es muss sich hier einiges tun, um jungen Talenten eine Perspektive zu bieten, um sie weiterzubringen und im Sport zu halten", so die Europameisterin. "Wir haben in Deutschland so großes Potenzial. Aber auch noch so viele Baustellen."

Staffel-Start trotz Knieverletzung?

Während für Kaul die EM beendet ist und er nun schon in Richtung WM 2023 in Budapest und dann Olympia 2024 in Paris denkt, hofft die angeschlagene Lückenkemper trotz ihrer Knieverletzung auf einen Staffel-Start. Am Sonntag um 21.22 Uhr, der allerletzten von 177 Entscheidungen der gesamten Münchner Multi-EM. Es dürfte dann noch einmal ziemlich laut werden im Olympiastadion.

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