Gelähmte Sportlerin Kristina Vogel: "Ich hege keinen Groll oder Hass"

AZ-INTERVIEW mit Kristina Vogel: Die Thüringerin ist mit zwei olympischen Goldmedaillen und elf Weltmeistertiteln zusammen mit der Australierin Anna Mears die erfolgreichste Bahnradsportlerin der Welt.
Am 26. Juni 2018 stürzte Vogel beim Training im Cottbuser Radstadion nach einer Kollision mit einem niederländischen Fahrer und zog sich einen Trümmerbruch des Brustbeins sowie eine schwere Wirbelsäulenverletzung zu. Seitdem ist die 30-Jährige querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl.
AZ: Frau Vogel, was bedeutet für Sie Weihnachten?
KRISTINA VOGEL: Vor allem: Den Akku aufladen. Es ist die Zeit zum Runterkommen, zum gesellig sein, die Familie zu treffen. Eine Ruhephase nach einem stressigen Jahr, die man ganz kuschelig auf der Couch verbringen kann - und wo man ein bisschen schlemmen darf.
Weihnachten ist das Fest der Liebe, aber auch der Hoffnung und der Zuversicht. Nun mit einem gewissen Abstand zu Ihrem schweren Unfall, wissen Sie noch, wie Sie sich heute vor zwei Jahren gefühlt haben?
Damals bin ja gerade nach einem halben Jahr aus dem Krankenhaus herausgekommen, und deshalb hat sich Weihnachten für mich wie ein großer Sieg angefühlt. Es ist ja schon etwas anderes, wenn man Weihnachten zu Hause bei seinen Lieben ist - oder alleine im Krankenzimmer mit einem Adventskalender.
"Die Sekunde des Unfalls selber ist komplett weg"
Wie erinnern Sie sich an diesen dramatischen Wendepunkt in Ihrem Leben?
Die Sekunde des Unfalls selber ist komplett weg. Das ist wahrscheinlich eine Schutzfunktion des Gehirns. Deshalb kann ich auch weiterhin noch unbeschwert Bahnradfahren schauen und den Sport auch fürs Fernsehen kommentieren. Ich habe aber noch den Moment vor Augen, wo ich auf der Bahn wachwerde. Da war mir sofort klar: 'Okay, das hier ist jetzt wirklich ernst!'
Warum befürchteten Sie damals sofort das Schlimmste?
Normalerweise hat man ja als Mensch, wenn man hingefallen ist, das Bedürfnis aufzustehen. Und ich hatte dieses Bedürfnis in diesem Moment überhaupt nicht.
Haben Sie jemals mit dem niederländischen Fahrer gesprochen, der auf Ihrer Bahn stand und mit dem Sie unverschuldet zusammengestoßen sind?
Nein, noch nie. Mittlerweile weiß ich aber, wer er ist. Ein Treffen war für diesen Sommer auch in Vorbereitung, aber dann kam Corona und wir mussten es vertagen. Und ganz ehrlich: Ich bin auch froh darüber, dass es nicht geklappt hat, denn ich glaube, ich war im Sommer noch nicht so weit. Ich hege keinen Groll und keinen Hass gegen ihn, auch weil ich glaube, dass eigentlich mehrere Leute schuld an diesem Unfall sind. Warum wusste er zum Beispiel nicht von dem ungeschriebenen Gesetz des Bahnradsports, dass man bei Trainingsbetrieb auf der Gegengerade keine stehenden Antritte macht? 2021 oder 2022 wird es aber zu einem Treffen kommen - und ich denke, dass es auch ihm gegenüber fair ist, denn er muss ja genau so mit seinem Schicksal umgehen wie ich.
"Ich bin froh, dass sein Name nicht öffentlich bekannt ist"
Das klingt, als hätten Sie sogar ein wenig Mitleid mit ihm?
Ich bin auf jeden Fall ziemlich froh, dass sein Name nicht öffentlich bekannt ist, denn das wäre wahrscheinlich sehr schwer für ihn.
Die Ermittlungen zum Unfallhergang laufen immer noch. Interessiert Sie das Ergebnis überhaupt noch?
Ja, denn ich hoffe, dass sich so schon noch ein paar Lücken für mich schließen werden.
Welche Träume mussten Sie damals aufgeben und welche sind seit ihrem Unfall neu dazugekommen?
Wenn ich eins gelernt habe dann, dass alles geht - nur eben anders. Klar, den Traum von der dritten Goldmedaille musste ich natürlich aufgeben, aber jetzt kann ich diesen Traum vielleicht anders verwirklichen, und zwar indem die Athleten, die ich hier trainiere (am Bundesleistungszentrum für den Radsport in Kienbaum/Brandenburg, Anm. d. Red.), vielleicht mal eine Goldmedaille bei Olympischen Spielen gewinnen werden.
Samuel Koch, der vor zehn Jahren bei "Wetten, dass...?" schwer verunglückt und seitdem, wie Sie querschnittsgelähmt ist, hat seinen Unfall als einen zweiten Geburtstag bezeichnet. Können Sie nachvollziehen, was er damit meint?
Total, er hätte bei seinem Unfall ja auch sterben können. Ich denke, so meint er das. Bei mir ist es auch so, dass ich den 26. Juni mittlerweile als eine Art zweiten Geburtstag sehe.
"Eine bronchiale Erkrankung wäre für mich gefährlich"
Sie wirken bei Ihren öffentlichen Auftritten und auch jetzt in diesem Gespräch sehr abgeklärt, gibt es nicht manchmal doch Momente, wo Sie mit dem Schicksal hadern?
Nicht im Allgemeinen, aber natürlich gibt's Momente, wo gerade etwas nervt. Wenn mein Lebensgefährte (der ehemalige Radsprinter Michael Seidenbecher, Anm. d. Red.) mal wieder die Duschbrause oben lässt (lacht), oder wenn man mal wieder zu einer Lokalität kommt, die nicht barrierefrei ist und man dann zum Hintereingang rein muss. Aber prinzipiell geht das ja jedem Menschen so, nur sind bei mir die Situationen eben andere als bei Stehenden.
Dennoch sind Sie von Corona ganz besonders betroffen, immerhin gehören Sie aufgrund ihrer Querschnittslähmung zur sogenannten Risikogruppe und mussten sich sogar für mehrere Wochen in Isolation begeben.
Aufgrund meiner Lähmungshöhe steht mir das Zwerchfell nicht komplett zur Verfügung zum Abhusten. Also wäre eine bronchiale Erkrankung für mich gefährlich, ich müsste dann ins Krankenhaus und beim Abhusten und Atmen unterstützt werden. Deshalb muss ich jetzt während der Pandemie besonders aufpassen - und auch darauf hoffen, dass mein Gegenüber die Hygiene-Maßnahmen respektiert.
Was sagen Sie dann zu Menschen, die sich durch das Tragen einer Maske, in ihrer persönlichen Freiheit beeinträchtigt fühlen?
Uns allen muss doch daran gelegen sein, dass die Infektionszahlen möglichst schnell wieder runtergehen. Und Entschuldigung, aber so eine Maske zu tragen, ist ja jetzt wirklich nicht so schlimm. Wir müssen uns einfach alle zusammenreißen, dann ist der Sch. . . auch schnell vorbei. Natürlich darf man zu den Corona-Maßnahmen auch eine andere Meinung haben und auch dagegen demonstrieren, aber man muss sich trotzdem an die Regeln halten.
"Mir macht jeder Tag auf die ein oder andere Weise großen Spaß"
Spricht da jetzt gerade die Politikerin Kristina Vogel, die letztes Jahr für die CDU in den Erfurter Stadtrat gewählt wurde?
(lacht) Ja, das kann sein.
Ist die Politik Ihre neue Berufung?
Manchmal fühlt sich diese Rolle noch ein wenig fremd an. Ich bin etwas ungeduldig und ich glaube, manche Debatte könnte man tatsächlich auch abkürzen. Aber ich habe mittlerweile gelernt, dass in der Politik der beste Kompromiss eben Zeit braucht, weil man nun mal alle Meinungen hören und unterschiedliche Argumente auch wirken lassen muss.
Zu guter Letzt: Was wünschen Sie sich fürs neue Jahr?
In erster Linie natürlich, dass die Welt wieder zur Ruhe kommt, dass die Corona-Pandemie ein Ende hat - und wir vor allem auch unsere Lehren daraus ziehen. Man hat ja gesehen - da spricht jetzt wahrscheinlich wieder die Politikerin in mir (lacht) -, dass viele Behörden gar keinen Plan hatten, wie sie auf so eine Pandemie reagieren sollen. Und ganz persönlich wünsche ich mir, dass es bei mir einfach so weitergeht wie bisher. Ich bin echt glücklich mit meinem Leben. Mir macht jeder Tag auf die ein oder andere Weise großen Spaß.