Geisenberger im AZ-Interview: "Ein Kinderlächeln glänzt für mich jetzt viel mehr als eine Goldmedaille"

München - AZ-Interview mit Natalie Geisenberger: Die 34-jährige Rodel-Mama holte bei den Spielen in Peking ihre insgesamt sechste Goldmedaille und ist seitdem Deutschlands Rekord-Winterolympionikin. Im Januar erwartet die Miesbacherin ihr zweites Kind.
AZ: Frau Geisenberger, wie feiert Deutschlands Rekord-Winterolympionikin eigentlich Weihnachten? Werden da statt Lametta einfach alle Ihre Medaillen an den Christbaum gehängt? Genug hätten Sie ja.
NATALIE GEISENBERGER: Nein, auf keinen Fall (lacht). Ich habe normalerweise bei uns im Wohnzimmer ein ganz altes Holzbrett, an dem meine olympischen Medaillen hängen. Aber ehrlich gesagt, da hängen sie schon länger nicht mehr. Irgendwann, als wir mal ein paar Tage nicht zuhause waren, habe ich die Medaillen in den Tresor gesperrt und seitdem einfach vergessen, sie wieder aufzuhängen.
Keine Pokale, keine Sportfotos an der Wand
Vor wenigen Wochen habe ich gedacht, dass ich sie zu Weihnachten mal wieder rausholen könnte, aber dann hat mir mein Mann aus dem alten Holzbrett einen Adventskalender gebastelt. Die Olympiamedaillen sind – wenn sie denn hängen – auch das einzige was an den Sport erinnert in unserem Wohnbereich im Haus. Es stehen keine Pokale rum und es hängen auch keine Sportfotos an der Wand.
"Ich bin ja nicht nur Sportlerin, sondern vor allem eben Mensch"
Warum eigentlich? Erinnern Sie sich nicht gern an Ihre Erfolge?
Doch, definitiv. Aber hier hängen Fotos von unserem Sohn Leo, von der Hochzeit, von der Bounty (Hund der Geisenbergers, Anm. d. Red.) – ich bin einfach nicht der Mensch, der sich gerne zur Schau stellt. Wenn wir Besuch bekommen, will ich nicht über den Sport reden, da will ich einfach nur ich sein. Ich bin ja nicht nur Sportlerin, sondern vor allem eben Mensch.
"Es ist wirklich angenehm, dass ich da heuer nicht hinmuss"
Aktuell mehr denn je, denn aufgrund der Schwangerschaft haben Sie wahrscheinlich gar keine Zeit, groß ans Rodeln zu denken. Das Gute an Ihren besonderen Umständen ist ja, dass Sie Weihnachten heuer endlich einmal voll genießen können, oder?
Das stimmt. So einen extremen Ernährungsplan mussten wir Rodler ja nie einhalten, aber dieses Jahr habe ich vor allem den Zeitdruck nicht, den ich sonst um diese Zeit immer hatte. Am Dienstag sind meine Kollegen erst aus den USA zurückgekommen und am zweiten Weihnachtsfeiertag geht's dann schon wieder weiter zur Deutschen Meisterschaft nach Oberhof. Ja, das ist wirklich ganz angenehm, dass ich da heuer nicht hinmuss (lacht).
Weihnachtszeit zuhause
Das klingt nach einer ganz neuen Erfahrung für Sie.
Ich merke gerade, wie viele Weihnachten ich bisher verpasst habe. Bei uns im Haus hängen jetzt Lichterketten und anderer Dekokram. Ich habe circa 15 verschiedene Sorten Plätzchen gebacken. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so eine Ader hab, aber es ist schön und Leo gefällt es auch. Ich genieße es einfach gerade wahnsinnig, nur zuhause zu sein.
Ein Snickers gegen Nervosität
Apropos genießen. Stimmt es eigentlich, dass Sie bei den Olympischen Winterspielen in Peking direkt vor Ihrer Goldfahrt noch ein Snickers gegessen haben? Und: Hat sich die Nada schon bei Ihnen wegen unerlaubtem Schoko-Dopings gemeldet?
Das war erlaubte Nervennahrung. Denn ich war zuvor tatsächlich ein bisserl nervös – nicht weil's Olympia war. Es ging mir um eine ganz bestimmte Ausfahrt, vor der hatte ich Respekt.
Sie sprechen von der berüchtigten Kurve 13, die am Ende sogar Ihre Glückskurve wurde, weil Sie die im Gegensatz zu vielen Konkurrentinnen in diesem entscheidenden Lauf perfekt meisterten.
Sicher nicht perfekt, aber ich bin durchgekommen. Ich habe mich im Vorfeld wahnsinnig intensiv mit dieser Bahn und dieser Kurve befasst. Allerdings bin ich selbst zuvor auch dreimal gestürzt, im Rennen selbst hatte ich es dann aber im Griff. Ich glaube, dass es eine Stärke von mir ist, abliefern zu können, wenn's wirklich wichtig ist. Bei meinen insgesamt 19 olympischen Läufen, habe ich eigentlich nie einen größeren Fehler gemacht.
Ausgeglichenheit als Vorteil
Sie sind also nicht nur die schnellste, sondern auch die coolste Mama im Eiskanal?
(lacht) Ich habe tatsächlich gemerkt, dass ich seit Leos Geburt entspannter geworden bin. Mir ist es mittlerweile nicht mehr so wichtig wie vorher, ob ich eine Medaille nach Hause bringe oder nicht. Leo ist das ja nicht wichtig, er freut sich einfach nur, dass die Mama wieder da ist. Diese Ausgeglichenheit war in Peking schon ein kleiner Vorteil für mich.
Natürlich bin damals nicht hingeflogen, nur um das Flugzeug vollzumachen. Aber meinen olympischen Traum hatte ich mir ja bereits erfüllt, den konnte mir niemand mehr nehmen. Ob dabei dann Gold – was natürlich im Nachhinein umso schöner war – oder Platz vier herumkommt, war halt nicht mehr so entscheidend.
Man hat als Mutter dann andere Prioritäten. Ich möchte meine Zeit im Sport auch nicht missen und erinnere mich gern an die Zeit und auch meine Erfolge, aber ein Kinderlächeln glänzt und strahlt halt jetzt für mich noch viel, viel mehr als jede Goldmedaille.
"Ich finde es schwierig, Gold mit Gold zu vergleichen"
Dann sicher auch viel mehr als ein dritter Platz bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres am vergangenen Sonntag. Es gab Zuschauer bei dieser Gala, die hätten Sie nach Ihrem Rekordjahr weiter, wenn nicht sogar ganz vorne erwartet...
Ich habe mir eigentlich schon gedacht, dass Gina Lückenkemper (EM-Siegerin über 100 Meter und WM-Bronze mit der 4x100-Staffel, Anm. d. Red.) gewinnen wird. Und sie hat sich den Titel definitiv verdient. Ich finde es sowieso sehr schwierig, Gold mit Gold zu vergleichen. Die Wahl zum Sportler des Jahres liegt für uns Wintersportler vielleicht auch etwas ungünstig, Peking ist fast schon wieder ein Jahr her, so eine EM im Sommer ist da noch viel präsenter. Aber wie gesagt, ich gönne Gina und Malaika die ersten beiden Plätze sehr und kann sehr gut mit meinem Bronze-Pokal leben.
Öffentliche Stellungnahmen zu Olympia in Peking: nicht nur persönliche Vorteile
Wegen der teils katastrophalen Zustände und Corona-Regeln vor Ort wären Sie beinahe nicht nach Peking geflogen.
Ich hab' wirklich sehr lange überlegt und mich ja auch öffentlich zu den massiven Problemen für die Sportler geäußert. Das hat mir nicht nur Vorteile gebracht – das war schon eine brutal harte Zeit, mit ganz vielen Tränen. Aber am Ende waren die Spiele in Peking eben unser gemeinsames Familienprojekt auf das wir alle zusammen nach der Geburt vom Leo hingearbeitet haben. Deshalb wollte ich es durchziehen.
"Wenn ich mich auf einen Schlitten setze, will ich auch ums Podest mitfahren"
Im Januar steht nun die Geburt Ihres zweiten Kindes an. Gedanken an ein Comeback im Eiskanal sind da wahrscheinlich ganz weit weg. Aber wäre es nicht schön, wenn Leo und seine Schwester ihre Mama nochmal auf dem Schlitten bei einem Heimrennen an der dann hoffentlich von Grund auf wiederhergestellten Rodelbahn am Königssee sehen könnten?
(lacht) Ich weiß den momentanen Stand beim Thema Königssee gar nicht, aber ich glaube, dass Ende August 2024 mit dem Bau begonnen werden soll. Ob das realistisch ist, dass mich die beiden dann dort noch mal auf dem Schlitten sitzen, oder besser liegen, sehen werden? Solange das zweite Kind noch nicht mal da ist, werde ich darüber nicht nachdenken.
Was ich sagen kann: Es war mit einem Kind und dem Sport eine sehr, sehr anstrengende, aber auch unglaublich schöne Zeit. Ob ich das mit zwei Kindern will, ob das mein Körper überhaupt schaffen würde, ob wir das als Familie noch mal gemeinsam versuchen wollen - all diese Fragen kann und will ich jetzt nicht beantworten. Sicher ist nur: Wenn ich mich noch mal auf einen Schlitten setze, will ich auch ums Podest mitfahren können.
Wie steht's denn um Ihren sportlichen Ehrgeiz, wenn Sie mit Ihrem Bub rodeln gehen?
Schlittenfahren macht ihm auf jeden Fall Spaß. Aber wir erziehen ihn komplett ohne Druck. Es wäre sehr schön, wenn er mal Sport – und das muss wirklich nicht Rodeln sein – machen will und einfach Spaß an der Bewegung hat. Und natürlich würden wir ihn unterstützen, wenn er auch in den Leistungssport will. Aber Leo muss definitiv nicht in meine Fußstapfen treten.
Sie könnten ihm und auch anderen auf jeden Fall eine Menge beibringen. Gab es eigentlich schon mal eine deutsche Rodel-Bundestrainerin?
(lacht) Nicht das ich wüsste!
"Andauernd unterwegs zu sein, das will ich dann nicht mehr"
Dann wird es aber höchste Zeit. Vielleicht ja im Gespann zusammen mit ihrem Rodel-Kollegen Felix Loch?
Sag niemals nie. Wobei ich es Stand heute eigentlich fast ausschließen würde, dass ich mal mit dem aktiven Sport aufhöre und dann doch irgendwie das Gleiche mache wie jetzt. Wieder andauernd unterwegs zu sein, um die Welt zu fliegen – das glaube ich, will ich dann nicht mehr. Irgendwann möchte ich einfach die Zeit zu Hause mit den Kindern, mit der Familie und mit Freunden genießen.
Peking und der Olympia-Rekord waren ein Familien-Projekt, was ist das nächste der Geisenbergers?
Ja mei, das nächste Familienprojekt steht ja in ungefähr vier Wochen an – das wird wahrscheinlich anstrengend genug (lacht).