„Geheimdienst? Wurscht!“
Wer seit 20 Jahren das Goethe-Institut in Peking leitet, der kennt China, den Wahnwitz, das Wachstum und das ganze krude System. Hier erzählt Michael Kahn-Ackermann davon.
AZ: Herr Ackermann, zuhause in Deutschland heißt es oft, man müsse Angst haben vor dem erwachenden Riesen China. Zu Recht?
MICHAEL KAHN-ACKERMANN: Das sieht der Westen aus einem verengten Blickwinkel. Eine Nation, die sich so schnell entwickelt, ist unberechenbar, aber so wie China im Westen dargestellt wird, ist es einseitig und Panikmache. Man braucht einen Buhmann, auf den man eindreschen kann. Das China-Bashing ist zur Zeit sehr beliebt. So wie man in den 60er Jahren Angst vor Japan hatte.
Nur gibt es hier massive Menschenrechtsverletzungen und eine starke Zensur.
Ich will das nicht beschönigen. Nur ist das Bild von China im Westen irrational, es geht an den zentralen Problemen vorbei. Ich kenne genug Dissidenten, die im Gefängnis waren und kurz vorm Krepieren waren, als man sie rausgelassen hat. Und die Art, wie das System Kritiker des Regimes verfolgt, ist skandalös. Die großen Probleme dieser Gesellschaft sind aber andere. Das soziale Gefälle, die wahnwitzige Urbanisierung. Die Gesundheitsversorgung und wie man so viele Menschen satt kriegt. Und das ökologische Problem. Das wird Europa noch zu spüren bekommen.
Chinas Umweltverschmutzung als Gefahr für das Weltklima?
Natürlich. China ist so groß wie Europa. Von Island bis Zypern, vom Ural bis Portugal. Was hier an CO2 in die Luft gepustet wird, bleibt kein chinesisches Problem. Wenn die das Desaster nicht in den Griff kriegen, dann Gnade uns allen.
Höchste Zeit, dass sich was ändert. Ist es auch höchste Zeit für einen politischen Umsturz?
Ich kenne keinen Regimekritiker, der einen Sturz der KP von heute auf morgen wollen würde.
Weil es zur Anarchie im Land käme?
Das Land würde explodieren. Schauen Sie nach Schanghai. Keine 15- oder 20-Millionen-Stadt auf der Welt, die so anständig verwaltet wird wie Schanghai. Gehen Sie mal nach Lagos oder Bombay, da sieht das anders aus. Die wirtschaftliche Entwicklung ist eine irrsinnige Leistung, das ist in der Geschichte kaum vergleichbar. Das System ist extrem flexibel und lernfähig.
Was hat es denn gelernt in den 20 Jahren, in denen Sie hier sind?
Ich habe 1988 hier angefangen, wir waren das erste ausländische Institut in Peking. Das war ein Geschenk von Deng Xiaoping an Helmut Kohl. Erst gab es viele Widerstände, für viele Chinesen waren wir erst ein Ableger des Geheimdienstes. Und dann sind wir im Jahr darauf gleich in den 4. Juni reingeraten.
Sie sprechen von den Protesten am Tian'anmen.
Das war das erste Mal, dass ich gesehen habe, wie Menschen tot geschossen werden. Das ist kein schönes Gefühl. Anders als man sich das vorher vorstellt. Plötzlich fällt neben dir einer um. Geändert hat sich zu damals, dass wir heute darüber reden können.
Mitten in Peking?
Natürlich, Sie können in einem Restaurant beim Abendessen wunderbar mit Menschen darüber reden, ohne Angst haben zu müssen. Selbst wenn der Geheimdienst hinter ihnen ist, auch wurscht. Da passiert ihnen nichts, die Leute erschrecken auch nicht, wenn man das anspricht. Man darf es nur nicht öffentlich machen.
Das ist doch absurd.
Das System ist ja auch nicht rational. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir machen gerade wieder eine gemeinsame deutsch-chinesische Aktion, die geht sechs Wochen. Dazu gehört auch jetzt wieder ein Filmfest. Die Filme, die wir dort zeigen wollen, müssen wir offiziell bei den Behörden beantragen, und auch jetzt wollten wir wieder „Das Leben der anderen“ zeigen. Und auch jetzt wurde es uns wieder abgelehnt.
Das verwundert nicht, ein Film über Stasi-Spitzeleien und Kritik am Sozialismus.
Sicher. Irrational ist nur, dass ich den Film an jeder Straßenecke kaufen kann. Jeder, der ihn hier sehen wollte, hat ihn schon gesehen. Auf dem Schwarzmarkt kriegen Sie alles, was Sie sehen und lesen wollen. Nur offiziell darf es eben nicht sein. Es ist ein autoritäres, aber kein totalitäres Regime. Totalitär war es bis Ende der Siebziger Jahre. Natürlich dient das System dem Größenwahn und dem Wohlstand. Trotzdem hat die Führung begriffen, dass sie auf Dinge von unten hören muss.
Aber handeln sie dann auch danach?
Nehmen Sie den Drei-Schluchten-Staudamm. Da wurden die Leute brutal umgesiedelt, da wurden Kulturdenkmäler einfach so unter Wasser gesetzt, keine Frage. Aber das chinesische Umweltministerium arbeitet inzwischen auch mit Nicht-Regierungs-Organisationen. So lassen sie sich von deutschen Instituten beraten, was die ökologischen Folgen des Staudamms angeht.
Nur scheinen sie auf Kritik aus dem Ausland nicht zu hören. Bestes Beispiel waren die Unruhen in Tibet im März.
Der Fall Tibet hat gezeigt, dass sich unsere Kulturen völlig verständnislos gegenüberstehen. Natürlich war Tibet eine idiotische Überreaktion des Regimes. Da gab es ein paar Randalierer, und schon hatten die die Armee hingeschickt, das war absurd. Das zeigt nur die permanente Alarmbereitschaft, in der sich das Regime befindet. Nur hat die Proteste im Westen hier niemand verstanden.
Die gab es vor allem bei dem umstrittenen Fackellauf.
Das hat hier aber niemand kapiert, dass in Paris einem behinderten Mädchen von einem Demonstranten die Fackel aus der Hand gerissen wird. Das war für niemanden überhaupt nachvollziehbar. Das ruft hier auch Zorn hervor, eine Art von Selbstbewusstsein, das hier sehr gekränkt ist. China hat sich immer gedemütigt gefühlt, durch die Kolonialisierung, durch die letzten 100 Jahre.
Wird sich das ändern, wie wird China von den Spielen hier profitieren?
Hat Deutschland von den Spielen 1972 profitiert?
München zumindest schon.
Darum denke ich, dass nicht in ganz China, aber in Peking etwas bleibt. Ein schönes Stadion, ein wunderbares U-Bahn-System, vielleicht mehr Weltoffenheit und mehr internationales Flair. Aber schrauben wir die Erwartungen nicht zu hoch. Die Zukunft wird es uns lehren.
Und was hat Sie persönlich die Vergangenheit gelehrt, Ihre 20 Jahre in China?
Dass ich die Wirklichkeit nicht durch die Brille meiner Wunschbilder betrachten kann. Dass China für viele nur ein Projektionsland ist, mit dem exotischen Touch, Kung Fu und Wundermedizin einerseits, mit Polizeistaat und Menschenrechtsverletzungen andererseits. Aber das sind nur Projektionen unserer Fantasie. Das ist nicht die Wirklichkeit. Wenn man hier länger lebt, lernt man, dass die Wirklichkeit etwas ziemlich Kompliziertes ist.
Interview: Florian Kinast
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