WM-Held Bonhof verrät: "Waren die ersten, die den neuen Pokal in den Händen hatten"
AZ: Wenn Sie heute an die WM 1974 denken. Was kommt Ihnen da als erstes in den Kopf?
RAINER BONHOF: Da kommen viele Erinnerungen in mir hoch. Ich habe noch vor Augen, wie Gerd Müller zusammengebrochen ist, obwohl noch ein Konter hätte laufen können. Ich habe im Kopf, wie Gerd den Querpass zum 2:1 verwertet. Ich habe noch im Kopf, wie Berti Vogts mir in die Arme springt, nachdem der Ball drin war. All´ so Sachen sprudeln mir ins Gedächtnis.
Machen wir eine kleine Zeitreise zurück in den Mai 1974. Der FC Bayern München wird nur knapp vor ihrem damaligen Verein Borussia Mönchengladbach Deutscher Meister. In der Nationalmannschaft gab es damals bereits den berühmt berüchtigten Bayern-Block, aber auch mit Kleff, Vogts, Heynckes und Ihnen einen Gladbach-Block. Hat dieses enge Rennen um die Meisterschaft für ein wenig Spannung in der Nationalmannschaft gesorgt? Oder gab es kleinere Machtspielchen unter den Spielern?
Man muss "Hacki" Wimmer noch in der Liste aufnehmen, der war auch noch im Kader. Aktuelle Gladbacher waren fünf in der Nationalmannschaft und natürlich Günter Netzer, der zuvor nach Madrid gewechselt war. Er war, wenn man so will, der sechste. Aber Animositäten oder ähnliches gab es damals nicht.
Bonhof über WM-Nominierung: "War erstmal baff"
Sie haben bereits 1972 in der Nationalelf debütiert, dann aber lange keinen Einsatz mehr für die Bundesadler bekommen. Wie groß war Ihre Hoffnung bei der WM im eigenen Land dabei zu sein?
Die Hoffnung war nicht existent. Die Mannschaft stand bereits. Erwin Kremers hat sich im letzten Spiel mit Schalke in Kaiserslautern einen Fauxpas erlaubt und ist vom Platz geflogen. Damals war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man nach einer roten Karte nicht mit zu einem Turnier darf. Helmut Schön hat ihn dann auch nicht nominiert. In dem Fall ist Dieter Herzog für ihn reingerutscht. Ich wiederum wurde im Urlaub mit Berti Vogts überrascht. Ein Freund rief damals an und meinte, ich sei im Kader. Ich habe gesagt: "Veräppeln kann ich mich selber." Anschließend hat Berti Vogts den Helmut Schön von der Telefonzelle aus angerufen. Irgendwann rief mich Berti in die Telefonzelle und meinte, ich solle mit ihm sprechen. Ich meinte wieder: "Komm Berti, veräppel mich nicht. Lass uns einfach Laufen gehen." Anschließend gab er mir den Hörer in die Hand, ich hörte den leichten sächsischen Dialekt von Helmut Schön und war erstmal baff. Wir waren dann trotzdem Laufen, ich war schließlich im WM-Kader. Am Abend haben wir das Ganze ein bisschen gefeiert.
Das Campo Bahia von 2014 hieß 1974 Sportschule Malente. Mit wem waren Sie auf dem Zimmer?
Ich war mit Wolfgang Kleff auf einem Zimmer. Ich war nie einer, der gerne in der Mittagspause geschlafen hat. Ich habe lieber mit Günter Netzer Tischtennis oder Billiard gespielt. Günter Netzer spielte während der WM keine große Rolle im Kader.
Hätten Sie lieber mit ihm auf dem Platz gestanden?
Ich wurde natürlich nicht gefragt, ich bin doch selber erst im letzten Moment reingerutscht. Ich habe erst gespielt, nachdem sich Wolfgang Overath auch eingespielt hatte. Nach der Niederlage gegen die DDR gab es dann einige Änderungen im Team.
Sie waren der jüngste Spieler im Kader der Nationalelf. Hatten Sie damals spezielle Verpflichtungen? Mussten Sie Wasser tragen oder nach dem Training Bälle sammeln?
Nein, das hatte ich schon geübt bei der EM 1972, da war ich schon richtig firm drin. Bälle einfetten, aufpumpen, mitnehmen. Es ging darum, sich in einer Kette von 22 Spielern einzuordnen. Wenn du vier Wochen nur miteinander trainierst, weißt du dich irgendwann einzuschätzen. Ich habe mich von vorneherein als vollwertiges Mitglied des Teams gesehen.

Nach Niederlage gegen die DDR: Beckenbauer ordnet Krisensitzung in der Küche an
Kommen wir zurück zum Fußballerischen: Gegen Chile und Australien gab es zwei Siege. Anschließend stand das Spiel gegen die DDR an, ein Spiel vermeintlich gegen das eigene Land mit politischer Brisanz. Heutzutage wird jedes Team vor der Partie seziert. Wie war das damals?
Ich kann versichern, dass ich keine laufenden Bilder von irgendeinem DDR-Spiel gesehen habe. Wir kannten die Namen, aber wussten nicht, wie sie spielen werden. Die Partie wurde mit 0:1 verloren. Rückblickend nicht schlecht, weil man so Gegnern wie Brasilien, der Niederlande und Argentinien in der 2. Runde aus dem Weg gegangen ist.
Wie fühlte sich damals die Rückfahrt vom Hamburger Volksparkstadion zur Sportschule Malente an?
Es war eine einzige Katastrophe. Wir sind 45 Minuten nach Malente gefahren, das ging dank der Polizeieskorte schnell. Aber im Bus hat kein Mensch gesprochen. Wir wussten, dass es enttäuschend war und warteten ab, was auf uns zukommt. Da war Totenstille.
Nach der Partie hat Kapitän Franz Beckenbauer eine nächtliche Krisensitzung in der Sportschule angeordnet. Mit welchem Gefühl sind Sie dort hingegangen?
Es war keine Krisensitzung im klassischen Sinne, es war eine Zusammenkunft in der Küche. Das war der einzige Ort, wo wir uns abseits eines Besprechungsraums zusammensetzen konnten. Ich hatte bis dahin keinen Einsatz, weshalb ich mich zurückgehalten habe, aber es wurde schon diskutiert. Es wurde aber auch nicht in die Details gegangen.
Würden Sie rückblickend sagen, diese Nacht war die entscheidende für den WM-Sieg?
Ich würde sie nicht missen wollen, es war super. Wir haben uns alles an den Kopf geworfen, das war wahrscheinlich der befreiende Abend. Jeder hat mit jedem gesprochen, diskutiert, gemacht, getan, dann hast du nochmal ein Bierchen getrunken und dann irgendwann kam einer und meinte, wir sollten ins Bett gehen. Ich denke, diese Besprechung war notwendig für alle Beteiligten.
Bonhof hätte auch für Finalgegner Niederlande spielen dürfen: "Wäre wahrscheinlich noch Niederländer, wenn ich nicht Fußball gespielt hätte"
Wie liefen die Spiele in der Zwischenrunde?
Im ersten Spiel gegen Jugoslawien waren es 38 Grad. Das war richtig heiß. Gegen Schweden gab es Regen ohne Ende und anschließend gegen Polen war es noch schlimmer. Diese Herausforderungen mussten gemeistert werden und das ist uns ganz gut gelungen.
Dann kam es auch schon. Das große Finale im Münchner Olympiastadion. Was war Ihr erster Gedanke am Morgen des Endspiels, und wie vergleichen Sie die Aufregung damals mit der Atmosphäre rund um die bevorstehende Europameisterschaft in Deutschland?
Ich war relativ ruhig. Ich wusste, dass ich spielen werde, das habe ich am Tag vorher schon erfahren. Am Morgen wurde mir gesagt, ich sollte mich um Johan Neeskens kümmern. Neeskens lief rauf und runter, ich musste ihn verfolgen und in seiner Vorwärtsbewegung stören. Berti Vogts sollte Johan Cruyff aufnehmen, jedoch entwischte er ihm, und dann gab es diesen frühen Elfmeter für die Niederlande. Im Kabinengang hat Berti dann noch die Gelbe Karte bekommen. Das weiß heute niemand mehr.
Sie haben auch einen niederländischen Pass. Hat jemand aus der Familie den Wunsch geäußert, dass Sie für die Niederlande spielen?
Ich wäre heute wahrscheinlich noch Niederländer, wenn ich nicht Fußball gespielt hätte. Ich habe damals mit dem niederländischen Pass ein Nachwuchs-Länderspiel für Deutschland gegen die Niederlande gemacht. Das ist von beiden Seiten, also den Trainern, abgenickt worden. Damals kam Herbert Widmayer, der die Jugend-Nationalmannschaft betreut hat, auf mich zu und meinte, wir müssen zusehen, dass du Deutscher wirst - und ich meinte: prima. Ich bin in Deutschland groß geworden, direkt an der niederländischen Grenze. Dann haben wir über den DFB erfahren, dass es ein Jahr länger dauern würde, wenn nur ich alleine Deutscher werde. Ich wollte natürlich sofort für die Jugendnationalmannschaft spielen, also wurde die ganze Familie eingebürgert. Es ging dann innerhalb von einem halben Jahr über die Bühne, und das reichte bis zur EM-Qualifikation mit der deutschen Jugendnationalmannschaft.
Sie haben es schon angesprochen. Nach 53 Sekunden gab es Elfmeter für die Niederlande, den Neeskens souverän verwandelte. Wie war die Stimmung auf dem Platz?
Die Stimmung war angespannt. Die Holländer waren das beste Team bei dieser Weltmeisterschaft. Wir haben dann gemerkt, dass sie uns nur noch laufen lassen wollen. Dann haben wir angefangen und haben Gas gegeben. Berti Vogts hatte dann, glaube ich, noch eine Chance vor der Halbzeit. Danach kam Paul Breitner mit dem Elfmeter und kurz darauf folgte meine Hereingabe für das 2:1. Diejenigen, die im Nachhinein behaupteten, wir hätten im Endspiel Glück gehabt, haben die zweite Halbzeit falsch gesehen. Wir hatten gute Chancen, ich hatte noch eine Kopfball-Chance, Gerd Müller ist nochmal gefoult worden, da hätte es auch Elfmeter geben müssen. Es war chancenmäßig ein ausgeglichenes Spiel.

Bonhof würdigt "Bomber der Nation" Gerd Müller
Der entscheide Pass zum 2:1 kam von Ihnen. Hat Gerd Müller gerufen?
Für mich war die Situation klar. Jürgen Grabowski war unter Druck. Vor ihm auf der rechten Seite war relativ viel Platz und ich kam von halb rechts. Er hat mir den Ball genau in den freien Raum gespielt. Ich bin mit einem Übersteiger an Ruud Krol vorbeigegangen. Ich musste denBall hart hereingeben, weil noch ein Gegenspieler in der Mitte stand. Dann bekam Gerd Müller den Ball, hat ihn angenommen und mit dem zweiten Versuch in unnachahmlicher Manier reingehauen. Ich glaube, dass niemand das Tor so hätte schießen können wie er.
Gerd Müller ist vor drei Jahren verstorben. Was hat er für die Mannschaft von damals bedeutet?
Gerd Müller war nicht nur ein absolut feiner Kerl, sondern als Stürmer eine Klasse für sich. Ich finde: Er ist mit niemandem zu vergleichen.
Wechseln wir das Thema: Gibt es denn sowas wie ein WhatsApp-Gruppe, in der alle Weltmeister von 1974 drin sind und sich manchmal ausgetauscht wird?
Nein, die gibt es nicht. Das wäre eine Idee, aber dafür müssten erstmal alle WhatsApp bedienen können (lacht).

WM-Held Bonhof über Nationalmannschaft: "Möglicherweise ist der Knoten geplatzt"
Haben Sie noch Kontakt zu anderen Weltmeistern?
Ja natürlich, man trifft sich nicht nur ab und zu bei Spielen. Man telefoniert auch hin und wieder. Man sieht sich, umarmt sich, das ist schön. Ich war neulich bei dem Länderspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden mit Dieter Herzog und Wolfgang Kleff, die haben sich ebenso wie ich unglaublich gefreut.
Welches Vermächtnis haben Sie mit der WM hinterlassen?
Wir haben kein Vermächtnis hinterlassen. Wir haben 20 Jahre nach dem WM-Sieg von Bern wieder den Titel geholt. Was die wenigsten wissen, ist, dass wir 1974 die ersten waren, die den neuen WM-Pokal in der Hand hatten. Auch das macht einen immer wieder stolz.