Vom Sündenbock zum Capitano: Müllers großes DFB-Comeback
Jerewan - Auch, wenn man mit Vollgas auf der Erfolgsspur unterwegs ist, sollte man hie und da einen Blick in den Rückspiegel werfen.
Dorthin schauen, wo man herkommt, damit man umso intensiver genießen kann, wohin man gerade unterwegs ist. Bei Thomas Müller, der am 6. November 2009 sein Debüt in der Nationalmannschaft gegeben hat, und der nun beim WM-Qualifikationsspiel gegen Armenien in Eriwan die DFB-Elf als Kapitän aufs Feld führt, geht diese rückwärtige Blick auf die finsterste Zeit seiner Karriere.
Müller spricht über DFB-Ausbootung: "War keine einfache Zeit"
Da hatte der Dauerlächler, der fast schon penetrant gut gelaunte Humorbeauftragte bei der Nationalelf und beim FC Bayern, sein Lächeln verloren. Im März 2019 hatte der damalige Bundestrainer Joachim Löw Müller den Bundesadler entzogen und ihn - zusammen mit Mats Hummels und Jérôme Boateng - aus der Nationalmannschaft verbannt.
Das Dreigestirn fand sich in der Sündenbock-Rolle für das blamable WM-Debakel 2018, als die deutsche Mannschaft, Weltmeister von 2014, bereits in der Vorrunde jeder Fußballer-Ehre beraubt, die Köfferchen packen musste. Das war zuvor noch keinem amtierenden Titelträger passiert.
Durch die Demission waren Hummels, Boateng und Müller als Teilschuld-Inhaber dieses Kollektivversagens gebrandmarkt. "Es war keine einfache Zeit" gestand Müller nach dem 9:0-Sieg der DFB-Elf gegen Liechtenstein am Donnerstag. Zuvor war Löw offiziell verabschiedet worden.
Auch Niko Kovac setzte nicht mehr auf Thomas Müller
Doch Müller war noch nicht am Boden des schwarzen Karrierelochs angekommen. Der neue Bayern-Trainer Niko Kovac, der biederen bis stereotypen Fußball spielen ließ, konnte mit dem Kick-Freigeist, dem selbst ernannten Raumdeuter nicht wirklich was anfangen.
Das Müller-spielt-immer-Credo des einstigen Bayern-Coaches Louis van Gaal hatte ausgedient, bei Kovac hieß es "Müller drückt meist die Bank". Zudem demütigte Kovac den stolzen Müller mit dem Satz: "Wenn Not am Mann sein sollte, wird Thomas Müller mit Sicherheit auch seine Minuten bekommen."
D er Frust saß so tief, dass Ur-Bayer Müller, der seit dem Jahr 2000 bei den Bayern spielt, und gefühlt zum Inventar gehört, über Republikflucht nachdachte, sich mit einem Wechsel ins Ausland beschäftigte. Doch in diesen düsteren Tagen hatte der Fußball-Gott - und mit ihm die Bayern-Bosse, die sich das Gekicke unter Kovac nicht mehr anschauen konnten oder wollten -, ein Einsehen.
Plötzlich spielte Müller unter Flick wieder groß auf
Kovac wurde nach der 1:5-Demütigung bei seinem Ex-Klub Eintracht Frankfurt die Tür nach draußen gezeigt. Der Bis-dato-Assistent Hansi Flick übernahm, korrigierte das Müller-Missverständnis sofort. Der Offensiv-Star war wieder gesetzt - und die Bayern setzten zu der titelreichsten Episode ihrer an Erfolgen nicht armen Historie an. Unter Flick holten die Bayern sieben Titel - darunter das heilige Triple von Meisterschaft, Pokal und Champions League.
Auch Löw kam nicht drum herum, den wieder groß aufspielenden Müller für die EM 2021 zurückzuholen. Den erhofften Einfluss hatte Müller aber nicht. Unvergessen sein Fehlschuss gegen England im Achtelfinale, als er allein auf Torwart Jordan Pickford zulaufend am Tor vorbei ballerte. Deutschland war draußen - und Müller auch wieder? Nein, Flick, der von 2006 bis 2014 bei der DFB-Elf und von 2019 bis 2021 bei Bayern mit Müller erfolgreich zusammengearbeitet hatte, wollte auf seinen verlängerten Arm auf dem Platz nicht verzichten.
"Enorm wichtig": Flick schwärmt von Antreiber Müller
"Er ist enorm wichtig, weil er die anderem immer pusht", sagte Flick. In den drei Länderspielen, die Müller vor der Armenien-Partie unter Flick bestritten hat, erzielte er drei Tore. In den letzten vier Jahren unter Löw davor (mit der Ausbootungspause) waren es genau so viele. Wie unersetzlich Müller ist, belegen einige Zahlen.
Gegen Liechtenstein bestritt der 32-Jährige sein 109. Länderspiel, überflügelte damit Jürgen Klinsmann. Nur Lothar Matthäus (150), Miroslav Klose (127), Bastian Schweinsteiger (121) und Philipp Lahm (113) liegen noch vor ihm. In der Torjägerlisteschloss er mit seinem 42. Treffer zu Michael Ballack auf, und rangiert damit auf Platz 9. Die deutsche Mannschaft ist schon für die WM 2022 in Katar qualifiziert - das Müller-Märchen geht bis dahin weiter. Das Kapitel vom Sündenbock zum Capitano hat er gerade hinzugefügt.
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