Interview

Urs Meier über neue Video-Technik: "Das ist eine Ungerechtigkeit im Regelwerk"

Der ehemalige Fifa-Schiedsrichter und ZDF-Experte Urs Meier spricht in der AZ über die Schweizer um Ex-Bayern-Star Xherdan Shaqiri, falsche Pfiffe seiner Kollegen – und unnötige technische Helferlein.
von  Thomas Becker
Urs Meier erinnert sich im AZ-Interview gerne an die Zeit als Experte neben Jürgen Klopp zurück und hofft, dass es seine Schweizer diesmal ins Halbfinale schaffen.
Urs Meier erinnert sich im AZ-Interview gerne an die Zeit als Experte neben Jürgen Klopp zurück und hofft, dass es seine Schweizer diesmal ins Halbfinale schaffen. © IMAGO/Jürgen Kessler/Kessler-Sportfotografie

München – AZ-Interview mit Urs Meier. Der 65-jährige Schweizer ist ein ehemaliger Schiedsrichter. Als Fußball-Kommentator und -Experte war der Züricher viele Jahre Teil des ZDF-Teams, aktuell arbeitet er für DAZN.

"Diese Sendungen an der Seite von Jürgen Klopp, natürlich war das großartig"

AZ: Herr Meier, wie verbringen Sie gerade die Europameisterschaft? Als Schiedsrichter-Experte sind ja bei ARD und ZDF nun andere am Werk...
URS MEIER: Ich bin gerade drei Tage in Nürnberg, bin viel unterwegs mit meinen Vorträgen, in denen es um das Thema "Unter Druck Entscheidungen treffen" geht. Die ersten Spiele habe ich live vor Ort gesehen, komme aber sonst kaum noch ins Stadion und schaue mir so die meisten Spiele im Fernsehen an. Die beiden Sender, für die ich tätig bin, übertragen die EM nicht.

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Jahrelang waren Sie im deutschen Fernsehen der Inbegriff des Schiedsrichter-Experten, seit der Heim-WM 2006 - das war schon eine spezielle Zeit, oder?
Diese Sendungen an der Seite von Jürgen Klopp: Natürlich war das großartig! Neu war ja, dass die Schiedsrichter mal eine Stimme und eine Wertschätzung bekommen haben. Dieter Gruschwitz, der ehemalige Sportchef des ZDF, hatte gespürt, dass es Zeit ist, auch mal eine andere Sichtweise aufzuzeigen.

Meiers "Ungerechtigkeit im Regelwerk"

Wie erleben Sie die aktuelle Schiedsrichter-Welt, die ja von immer mehr technischen Hilfsmitteln geprägt ist?
Alles was schwarz-weiß ist, kann man durch den Fernsehbeweis wunderbar abdecken, aber in den Grau-Bereichen, wo es Fußballverständnis braucht, werden wir weiterhin Probleme haben. Bei der EM sind die besten Schiedsrichter und Video-Assistenten - da werden wir weniger Probleme haben. Anders in der nationalen Meisterschaft, wo nicht die Top-Schiedsrichter am Werk sind. Diese Diskussionen werden uns bleiben. Deshalb müssen wir die Schiedsrichter im Bereich Fußballverständnis möglichst gut ausbilden. Wenn das fehlt, wird man immer Probleme haben.

Jetzt meldet der Chip am Ball sogar schon die geringste Berührung mit der Hand!
Braucht es das? Das muss ich selber sehen, ob der Ball die Hand berührt hat oder nicht! Dieser Ausschlag des Chips interessiert mich nicht. Entscheidend ist: War es Absicht? Hat er sich einen Vorteil damit verschafft? Die Regel, dass eine Handberührung durch den Stürmer immer abgepfiffen wird, ist einfach falsch - solange es nicht Absicht war. Wenn es unabsichtlich war, geht das Spiel weiter! Beim Abwehrspieler wird auch nicht jede Handberührung gepfiffen. Das ist eine Ungerechtigkeit im Regelwerk.

Ex-Bayern Shaqiri und Sommer begeistern die Schweiz

Lassen Sie uns über Ihre Landsleute sprechen. Beim 1:1 gegen die Schotten dürfte mancher Bayern-Fan ein bissl melancholisch geworden sein: Einem gewissen Xherdan Shaqiri, derzeit bei Chicago Fire unter Vertrag, gelang mal wieder eins seiner sensationellen Traumtore. Eine halbe Ewigkeit ist das her, dass er für die Bayern traf!
Sensationell! Man wusste nicht, ob er überhaupt fit genug ist, aber er ist einfach ein genialer Fußballer, hat einen Zauberfuß, was er schon bei der EM 2016 bewiesen hat, mit diesem Fallrückzieher, einem der schönsten Tore, die es je gegeben hat. Und jetzt schießt er wieder so ein Tor! Ich gönne es ihm! So ein sympathischer, toller Mensch! Und ich gönne es Murat Yakin, dass er ihn eingesetzt hat - da hat er ein geniales Gespür bewiesen.

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Ein anderer Ex-Bayer macht ebenfalls eine gute Figur: Torwart Yann Sommer, der den Champions-League-Finalisten Gregor Kobel zum Reservisten macht - die nächste gute Yakin-Entscheidung, oder?
Absolut. Wenn du zwei Weltklasse-Torhüter hast, ist das immer schwierig. Das Problem haben die Deutschen ja auch. Und dann ist es wichtig und richtig, dass sich der Trainer für einen entscheidet und ihm das Vertrauen ausspricht. Vertrauen ist das Wichtigste für einen Torhüter. Ich glaube, dass Deutschland mit Manuel Neuer die richtige Entscheidung getroffen hat, so wie Yakin mit Sommer.

Umstritten war der Trainer dank der bescheidenen Ergebnisse im vergangenen Herbst. Kapitän Granit Xhaka nahm kein Blatt vor den Mund, doch nun scheinen die Unstimmigkeiten beiseite geräumt zu sein.
Die Problematik wurde früh genug angegangen und im Februar, März ausgeräumt. Sie haben sich ausgesprochen, sich jede Woche ein Mal angerufen, das Rollenverständnis geklärt. Hinzu kommt, dass Xhaka auch dank Xabi Alonso in Leverkusen zu einer Ruhe gefunden hat. Er ist so mittig, hat seine Rolle gefunden. Darf nur noch der Spielführer mit dem Schiedsrichter sprechen? Das gefällt ihm! Er ist der Chef. Und er hat immer noch die Form, die er bei Leverkusen hatte. Das Problem ist ja, dass Xhaka und Yakin sehr ähnlich sind: beides geniale Spieler, Leader-Typen, impulsiv. Wenn deren Verhältnis passt, gibt das eine unglaubliche Power in die Mannschaft.

Nach dem Nachbarschaftsduell: "Warum nicht mal bis ins Halbfinale kommen?"

Am Sonntagabend kommt es nun zum Nachbarschafts-Duell - hatten wir schon lange nicht mehr.
1966, das letzte Aufeinandertreffen bei einem großen Turnier. Das erste WM-Spiel, das ich geschaut habe, als Siebenjähriger. 5:0 haben wir verloren.

Wie wird's nun ausgehen?
Der einzige Sieg der Schweiz, seit ich auf der Welt bin, war 2012, in einem Freundschaftsspiel, das wir 5:3 gewonnen haben, da war ter Stegen im Tor. Dieses Resultat würde ich mir jetzt auch wieder wünschen.

Zwei Legenden, ein Spektakel: Im Mai 2012 hatte Ex-Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld (r.) dank eines Dreierpacks von Eren Derdiyok das bessere Ende gegen Joachim Löw (l.) und das DFB-Team für sich: Die Schweizer gewannen 5:3.
Zwei Legenden, ein Spektakel: Im Mai 2012 hatte Ex-Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld (r.) dank eines Dreierpacks von Eren Derdiyok das bessere Ende gegen Joachim Löw (l.) und das DFB-Team für sich: Die Schweizer gewannen 5:3. © IMAGO / Eibner

5:3?
Warum denn nicht? Beide Mannschaften sind mehr oder weniger qualifiziert und sollten mit offenem Visier spielen können.

Da haben Sie recht. Was trauen Sie den Eidgenossen im Turnier noch zu? Bei der EM 2021 war im Viertelfinale Schluss, bei der WM im Achtelfinale…
So wie es aussieht, werden sie Gruppenzweiter, dann geht es wohl gegen Italien oder Spanien - unglaublich schwierig, aber beim letzten Mal haben wir die Franzosen rausgeworfen. Also warum nicht mal bis ins Halbfinale kommen?

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