Unverständnis nach Eriksen-Schock: Weiter, wirklich immer weiter?

Kopenhagen - Schnell wird im Sport von Dramen und Tragödien gesprochen, dabei geht es nur um Sieg oder Niederlage – und eben nur um ein Spiel.
An diesem 12. Juni 2021 spielte sich eine wirkliche Tragödie auf dem Rasen des Parken-Stadions in Kopenhagen ab. Der dänische Superstar Christian Eriksen, den sie in seiner Heimat liebevoll "König Christian" nennen, war in der 43. Minute des Spiels gegen Finnland kollabiert, blieb regungslos - ja, leblos - liegen.
Die Mitspieler winkten die Ärzte herbei. Es begann der Kampf um das Leben - das Überleben - von Eriksen, dessen Herz zu schlagen aufgehört hatte. Die Spieler weinten, bildeten einen Sichtwall, hinter dem sich die Mediziner um Eriksen bemühten.

Fans skandieren gemeinsam "Christian Eriksen"
Druckmassage um Druckmassage. Ein Kampf um Eriksen, gegen die Zeit, gegen den Tod. Die finnischen Fans fingen an, "Christian" zu skandieren, die dänischen Anhänger antworteten mit "Eriksen".
Es war wie ein gemeinsames Stoßgebet zum Herrn. Kapitän Simon Kjaer, der die Erstversorgung eingeleitet und Eriksen die Zunge aus dem Rachen gezogen hatte, versuchte, dessen Freundin zu trösten. Er fand Worte, wo es keine Worte mehr gibt. Er gab Kraft, wo es nur noch Glauben gibt. Dann fing Eriksens Herz wieder zu schlagen an. "Wir haben es geschafft, ihn zurückzuholen", sagte Teamarzt Martin Boesen.

Unter Ovationen wurde Eriksen ins Krankenhaus gebracht, auf der Anzeigentafel erschien der Hinweis, dass er "in stabilem Zustand" sei. Später machte die Kunde die Runde, dass der 29-Jährige von Inter Mailand "wach und ansprechbar" sei, dass er sogar schon wieder selber sprechen könne. Die Gründe für den Kollaps? Völlig unklar. "Er war nicht an Covid erkrankt, und er wurde auch nicht geimpft", sagte Giuseppe Marotta, Boss von Eriksens Verein Inter Mailand. Aber das Wichtigste: Eriksen lebt!

Eine Partie, die keinerlei sportlichen Wert mehr hatte
"Das ist die beste Nachricht, die je in einem Fußballstadion verkündet wurde", erklärte die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Sie dankte "allen Fans, die mit Würde, Liebe und Anerkennung reagiert haben. Es war magisch." Zudem dankte sie den Spielern beider Teams, "die Menschlichkeit und Format gezeigt haben".
Menschlichkeit und Format, die an anderer Stelle leider fehlten. Zur Verwunderung - ja, eher zum Entsetzen - vieler, die das Drama live oder am Fernsehen miterlebt hatten, wurde die Partie nach 90 Minuten fortgesetzt. Angeblich auf den Wunsch beider Teams – und auch Eriksens, der seine Kollegen in einem emotionalen Videoanruf in der Kabine dazu aufgefordert habe. Und so spielten die Teams eine Partie zu Ende, die keinerlei sportlichen Wert mehr hatte, gerade den Dänen war der Schock, der emotionale Ausnahmezustand deutlichst anzumerken, Finnland siegte am Ende 1:0.
Weiter, immer weiter? Wirklich? Die UEFA hatte die Entscheidung den Teams überlassen, schob Regel 29 vor. Darin geht es um das Prozedere bei einer Neuansetzung, Ausnahmesituationen wie diese werden da gar nicht thematisiert. Die Wahl bestand ausschließlich darin, ob die Teams am Abend weiterspielen wollten oder am Sonntag um 12 Uhr.
"Man hat die Spieler vor eine Wahl gestellt, die keine echte Wahl ist", sagte die dänische Fußball-Ikone Michael Laudrup (56), "wenn sowas passiert, ist man seinen Emotionen ausgeliefert und hat nicht den Überblick, um wichtige Entscheidungen zu treffen." Er betonte, die UEFA hätte Verantwortung übernehmen müssen: "Es muss jemanden geben, der sagt, wir hören hier auf. Es ist falsch, so kurz nach einem emotionalen Ereignis eine Entscheidung treffen zu müssen." Die Spieler erhielten nach der Partie psychologische Hilfe.

Experten sehen Spielfortsetzung kritisch
Anders als bei Olympia 1972 in München, als man nach den Terrormorden verkündet hatte: "The Games must go on", damit die Attentäter nicht ihre Ziele erreichen, gibt es hier keinen höheren Wert, um das Spiel fortzusetzen. Auch die 2014er-Weltmeister und ZDF-Experten Christoph Kramer und Per Mertesacker sahen die Fortsetzung sehr kritisch. "Das ist für mich der absolute Wahnsinn, das geht nicht", sagte Kramer, "da liegt der Fehler noch bei der UEFA. Da muss irgendjemand sagen: Leute, jetzt schlaft mal eine Nacht drüber." Mertesacker hielt die Wiederaufnahme "nach so einem Schockmoment" für gefährlich: "Man sollte die Spieler schützen."
Das ZDF selber war auch kein Vorbild in der Aufarbeitung. Der Sender strahlte nach der Unterbrechung eine Folge des "Bergdoktors" ab, es gab keine Einblendungen, dass die Partie Belgien – Russland deswegen auf ZDFneo zu sehen sei. Ein Trauerspiel – in vielerlei Hinsicht.
Die beste Nachricht kam am Sonntag. Eriksen schrieb den Kollegen aus dem Krankenhaus: "Ich bin bald zurück!"