Tragödien, Tränen und Triumphe: Die historischen Duelle mit Italien

Der Fußball-Klassiker zwischen Deutschland und Italien hat fantastische Geschichten geschrieben- ein echtes Jahrhundertspiel, Elfmeter-Dramen und beeindruckende Muskelspiele. Ein Rückblick der AZ.
Hartmut Scherzer |
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Das Jahrhundertspiel bei der WM 1970: Schnellinger trifft in der Nachspielzeit des Halbfinales zum 1:1 (Foto links), Beckenbauer spielt verletzt durch (rechts), am Ende jubelt Italien (4:3 n. V.).
Das Jahrhundertspiel bei der WM 1970: Schnellinger trifft in der Nachspielzeit des Halbfinales zum 1:1 (Foto links), Beckenbauer spielt verletzt durch (rechts), am Ende jubelt Italien (4:3 n. V.). © imago images/WEREK

München - Eine schwarze Serie verdunkelt den deutschen Klassiker gegen Italien. In allen acht Duellen bei Welt- und Europameisterschaften seit 1962 gelang Deutschland 54 Jahre lang kein Sieg. Erst das erste Elferschießen, eine deutsche Spezialität, hat die Angst vor dem Angstgegner gelindert. Ein 6:5 brach den Bann im EM-Viertelfinale 2016 in Bordeaux.

Die Nations-League-Spiele am Samstag in Bologna und am Dienstag in Gladbach stehen unter dem Fragezeichen, wie der Europameister den Schock der verpassten WM in Katar verdaut hat. AZ-Mitarbeiter Hartmut Scherzer hat bis auf Warschau 2012 alle spektakulären Italien-Klassiker live im Stadion gesehen.

Eine Rückschau

Das Jahrhundertspiel (WM-Halbfinale 17.6.1970 Mexiko-Stadt n.V. 3:4): Die 92. Minute ist angebrochen. Ausgerechnet Karl-Heinz Schnellinger, der "Italiener" des AC Milan, rutscht wie aus dem Nichts mit einem Spreizschritt in eine Flanke des überragenden Jürgen Grabowski: 1:1. Die Italiener, früh durch Boninsegna in Führung gegangen, sind fassungslos.

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Die Verlängerung wird ein faszinierendes Schauspiel mit einer herrlichen Planlosigkeit auf beiden Seiten: 2:1 Gerd Müller mit einem Kullerball, 2:2 Burgnich nach einem hanebüchenen Fehler von Held, 2:3 Riva, völlig ungedeckt, 3:3 Müller mit einem Kopfball im Gewühl, 3:4 Rivera, völlig freistehend.

Uwe Seeler: "Mit einem gesunden Franz hätten wir gewonnen"

Das chaotische Torspektakel verwandelt das mit 102.444 Zuschauern gefüllte Azteken-Stadion in ein Tollhaus. Mittendrin Franz Beckenbauer als verwundeter Feldherr. Der rechte Arm ist an die Brust gebunden. Die Italiener haben seine Vorstöße nur mit brutalen Fouls stoppen können. Das brutalste Foul leistet sich Cera, der dem "Kaiser" im vollen Lauf die Beine wegschlägt. Beckenbauer fliegt durch die Luft, landet auf der rechten Schulter. Es ist die 65. Minute, in der Beckenbauer eine schwere Prellung des Schultereckgelenks erleidet.

Doch Bundestrainer Helmut Schön hat das Auswechselkontingent ausgeschöpft. Beckenbauer quält sich durch. Als er beim Ausgleich die Arme hochreißen will, bricht er den Jubel mit schmerzverzerrtem Gesicht ab. Das Drama ist verloren. Besser so, als durch einen Münzwurf das Finale verpassen. Elferschießen gab es noch nicht. Kapitän Uwe Seeler sagt: "Mit einem gesunden Franz hätten wir gewonnen."

WM 1982: Niederlage im Finale

Sportliche Ganoven (WM-Finale 11.7.1982 Madrid 1:3): Selbst in der Heimat ist manch deutscher Fußball-Liebhaber froh, dass Jupp Derwalls "sportliche Ganoven", wie der 1966er Vize-Weltmeister Willi Schulz lästert, die Ehre des Weltmeistertitels verwehrt bleibt. Keine Chance hat die nicht länger arrogante, sondern ausgelaugte deutsche Mannschaft im Bernabéu von Madrid gegen Italien. Nach einem von Antonio Cabrini verschossenen Elfer dreht der geniale Regisseur Bruno Conti in der zweiten Halbzeit auf.

Weltmeister! Italien um Antonio Cabrini (r.) schlägt Deutschland im Finale 1982 verdient mit 3:1 und holt sich den Titel.
Weltmeister! Italien um Antonio Cabrini (r.) schlägt Deutschland im Finale 1982 verdient mit 3:1 und holt sich den Titel. © picture-alliance / dpa

Paolo Rossi trifft zum 1:0 (57.). "Wir wussten, da geht nichts mehr. So platt waren wir", sagte Klaus Fischer später. Die Folge: 2:0 (69.) Marco Tardelli, 3:0 (81.) Alessandro Altobelli, Paul Breitner (83.) schießt das Gegentor. Von einem "Ehrentor" zu schreiben, wäre der Gipfel des Zynismus, denn die Mannschaft um Kapitän Karl-Heinz Rummenigge und die eigentlichen Anführer Breitner und Toni Schumacher hat ihre Ehre verloren.

Die Skandale: Das peinliche 1:2 gegen Algerien, die "Schande von Gijón", jener Nichtangriffspakt mit den Österreichern nach dem 1:0, das dem Nachbarn weiterhilft und für die Nordafrikaner das Aus bedeutet. Die "Affäre Battiston", jene rüde Attacke Schumachers gegen den Franzosen, die das siegreiche Elfmeter-Drama gegen Frankreich, überschattet.

Last Minute (WM-Halbfinale 4.7.2006 Dortmund n.V. 0:2): Es war zum Heulen und es flossen Tränen. Es läuft die 119. Minute. "Capitano" Michael Ballack und Bastian Schweinsteiger schauen nur zu, wie Andrea Pirlo einen Pass in den Strafraum spielt.

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Fabio Grosso lässt mit einem Schlenzer Jens Lehmann keine Chance. Das "Sommermärchen" wird für Deutschland zur "Sommertragödie", der von Bundestrainer Jürgen Klinsmann erweckte Traum vom WM-Titel im eigenen Land zum Trauma. Das 2:0 nur zwei Minuten später reißt Klinsi aus seiner Schockstarre. Der Trainer wird zum Tröster auf dem Platz: "Solch ein K.o. kurz vor Schluss tut sehr, sehr weh." Italien wird in Berlin gegen Frankreich (n.V. 1:1, Elferschießen 5:3) zum vierten Mal Weltmeister. Klinsmann tritt nach der WM zurück. Nachfolger wird Joachim Löw.

EM 2012: Balotelli zeigt seine Muckis

Der Bodybuilder (EM-Halbfinale 28.6.2012 Warschau 1:2): Ein afrikanischer Azzurri lässt Deutschland an Italien scheitern. Mario Balotelli (21) reißt sich das Trikot vom Leib und spannt in Bodybuilder-Pose seinen muskulösen Oberkörper an. Der Paradiesvogel mit dem goldenen Haarkamm genießt seine Show. Der in Palermo geborene Sohn ghanaischer Einwanderer hat mit einem 120-km/h-Schuss in den Torwinkel auf 2:0 (36.) erhöht.

Mario lässt die Muskeln spielen: Italiens Balotelli besiegt Deutschland um Lahm (l.) im WM-Halbfinale 2006 fast im Alleingang.
Mario lässt die Muskeln spielen: Italiens Balotelli besiegt Deutschland um Lahm (l.) im WM-Halbfinale 2006 fast im Alleingang. © picture alliance / dpa

Schon das 1:0 (20.), als er mit einer halben Körperlänge Holger Badstuber überspringt und mit dem Kopf den Ball ins Netz wuchtet, ist das Produkt seiner Athletik. Die Italiener sind zu abgezockt, um sich von der jungen deutschen Mannschaft überrumpeln zu lassen. Das Anschlusstor per Handelfmeter durch Mesut Özil fällt erst, als 90 Minuten rum sind. "Das Aus trägt Löws Handschrift", urteilt "Die Welt". Zwei Jahre später werden dieser Löw und dieselbe Mannschaft Weltmeister.

Hector trifft, Buffon weint

Elfer-Drama (EM-Viertelfinale 2.7.2016 Bordeaux n.V. 1:1 ES 6:5): Weit nach Mitternacht. "Es gibt nur einen Jonas Hector", singen die deutschen Fans in der Straßenbahn vom Stadion in die Innenstadt. Es gab zwar mal den Trojaner Hector in der griechischen Mythologie. Der Kölner Hector geht auch in die Geschichte ein: "Held von Bordeaux". Als letzter von je neun (!) Elferschützen entscheidet der 26-Jährige das Drama gegen Angstgegner Italien. 6:5 nach 1:1. Der Weltmeister steht im Halbfinale (0:2 gegen Frankreich).

Der Italien-Fluch bei großen Turnieren ist gebrochen: Jonas Hector verwandelt im EM-Viertelfinale 2016 den entscheidenden Elfer.
Der Italien-Fluch bei großen Turnieren ist gebrochen: Jonas Hector verwandelt im EM-Viertelfinale 2016 den entscheidenden Elfer. © picture alliance / dpa

"Es war ein Nervenkrieg, wie ich ihn noch nie erlebt habe", erzählt Manuel Neuer. Kroos trifft. Thomas Müller scheitert an Buffon. Özil an den Pfosten. Draxler trifft. Schweinsteiger drüber. Matchball vergeben. Hummels, Kimmich, Boateng treffen. 5:5. Ohne Neuers (zweiten) abgewehrten Schuss von Darmian wäre Hector nicht der Siegschütze geworden. Der wahre Held stand also im Tor. Dennoch: Nervenstärke ist bei Hector gefordert. Kurzer Anlauf, Schuss mit rechts. Er habe gezittert, ob der Ball reingeht. Er geht rein, unter den Armen von Buffon. Italiens Torwart-Ikone, 38 Jahre alt, vergießt bittere Tränen. Dieses Mal weint eben Italien.

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