Thomas Schneider - Beseelt von Jogis Spirit
AZ: Herr Schneider, bevor wir auf den Status Quo der Nationalmannschaft eingehen wollen, interessiert uns vor allem eines: Wie haben Sie persönlich die dramatischen, ja traumatischen Ereignisse rund um die Länderspiele in Paris und Hannover verarbeitet?
Thomas Schneider: Ich habe ein wenig Zeit gebraucht. Nicht speziell in besagter Nacht in Paris. Da habe ich einem kleinen Kreis angehört, der wichtige Entscheidungen treffen musste im Sinne der Sicherheit für die Mannschaft. Da musst du als Verantwortlicher für das Team einfach funktionieren. Das Ganze kam dann erst am nächsten Tag so richtig hoch, als man im Fernsehen das volle Ausmaß der Ereignisse mitbekommen hat – und Zeit zum Reflektieren hatte.
Wie kann man sich die Szenerie in den Katakomben der Fußball-Arena in St. Denis vorstellen? Wurde geschwiegen, geredet, gebetet?
Jeder geht anders mit einer solchen Extrem-Situation um. Wenn in unmittelbarer Nähe solch extreme Dinge passieren, kommt bei dem einen oder anderen sicher auch das Gefühl der Angst hoch. Je länger die Nacht dauerte, umso sicherer haben wir uns aber im Stadion gefühlt.
Nicht nur Sportveranstaltung sind vom Terror betroffen
In Hannover war der DFB-Tross bereits auf dem Weg ins Stadion, als der Bus nach der Absage des Klassikers gegen die Niederlande gestoppt wurde. Dabei wollte der Deutsche Fußball Bund eigentlich ein Zeichen setzen gegen Terror und Intoleranz, ein Signal geben für Frieden und Freiheit.
Als wir am Morgen nach den Anschlägen in Paris in die Maschine gestiegen sind, konnte keiner sagen, ob es Sinn macht, das Spiel in Hannover auszutragen. In solch einer Situation kannst du niemanden zwingen, auf den Platz zu gehen. Am nächsten Tag haben wir uns dann mit dem Spielerrat beraten. Als dann die Franzosen entschieden haben, zu spielen, war auch für uns klar, dass unser Spiel stattfinden soll. Mit der Partie wollten wir auch ein Zeichen setzen für unsere Werte. Das war auch den Spielern wichtig. Man hat in diesen Tagen gemerkt, wie sehr sie die Ereignisse beschäftigen.
Macht es Ihnen Angst, dass nun auch sportliche Großereignisse wie Fußball-Länderspiele im Fadenkreuz von Terroristen und Extremisten sind?
Diese Problematik betrifft ja alle Lebensbereiche, in denen wir uns bewegen. Nicht nur Sportveranstaltungen, sondern das Leben auf offener Straße, im Café, im Konzert. Insofern reden wir hier von einer ganz anderen Dimension. Was speziell die Fußballspiele betrifft: Ich vertraue darauf, dass man Stadien sichern kann durch entsprechende Kontrollen.
Die 0:2-Niederlage in Frankreich und der gecancelte Test gegen die Niederlande haben das Jahr 2015 für die deutsche Nationalmannschaft unbefriedigend beendet. Das DFB-Team ist in seiner Qualifikationsgruppe Erster geworden, musste aber auch zwei Niederlagen quittieren. Würden Sie uns zustimmen, wenn wir behaupten, dass die Quali unrund lief?
Ich stimme zu, wenn man sagt, dass die Qualifikation holprig war. Fakt ist, dass wir uns qualifiziert haben. Fakt ist auch, dass die Jungs auf den Punkt da waren, als es darauf ankam, nämlich in den Spielen gegen Polen und Schottland. Da waren wir am Leistungslimit. Dass wir uns insgesamt noch steigern müssen, kann man nicht von der Hand weisen. Aber ich kann mich an Qualifikationen erinnern, die weitaus spannender waren. Nehmen Sie nur Icke Häßlers spätes Tor gegen Wales bei der WM-Quali 1990.
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Nach WM-Bruch - "Team muss sich neu finden"
Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür, dass Bastian Schweinsteiger und Co. die Aufgaben nicht so souverän meisterten, wie es viele Experten vermutet hatten?
Als ich zur Nationalmannschaft gekommen bin, war schon eine bestimmte mentale Müdigkeit nach dem WM-Triumph zu spüren. In Brasilien ist wochenlang an der Kante gearbeitet worden, alles war total fokussiert auf den Erfolg. Es ist dann ein Stück weit normal, dass man in eine Phase kommt, in der man sich konsolidieren muss und nicht ständig Topleistungen abrufen kann. Zudem gab es nach der WM einen Bruch, weil die Nationalmannschaft unglaublich wichtige Spieler – auch von den Persönlichkeiten her – verloren hat, mit Miroslav Klose, Per Mertesacker und Philipp Lahm. Da ist es klar, dass sich die Mannschaft zu einem gewissen Teil neu finden muss.
Wie bewerten Sie die EM-Vorrundengegner Polen, Ukraine und Nordirland?
Die polnische Mannschaft hat sich sehr gut entwickelt, agiert gut aus Kontern heraus und hat mit Robert Lewandowski einen echten Vollstrecker. Sie gehören für mich zum erweiterten Favoritenkreis. Polen ist sicher unser stärkster Gruppengegner. Die Ukraine ist defensivstark, variabel im Spielsystem, eine unbequeme Mannschaft. Die Nordiren erwarten wir wie Irland in der Qualifikation: Unheimlich mannorientiert und zweikampfstark, richtig gut bei Standardsituationen. Wir wissen, was in der Gruppenphase auf uns zukommt. Und unser Ziel kann nur lauten, die Gruppe zu gewinnen.
Trotz leichter Gruppe: Angstgegner droht im Viertelfinale
Lassen Sie uns mal ein bisschen Bundestrainer spielen. Eine vieldiskutierte Personalie ist Bastian Schweinsteiger, der bei seinem neuen Klub Manchester United zuletzt stark in die Kritik geraten ist. Wie sehen Sie die Diskussionen um seine Person?
Ich hab’ Bastian Schweinsteiger im letzten halben Jahr sehr intensiv verfolgt. Und ich wundere mich schon, warum er so in der Kritik steht. Die Mannschaftsstruktur bei Manchester ist sicher nicht einfach. Ich habe einige Spiele gesehen, bei denen ich das Gefühl hatte, dass er in die Spielidee nicht integriert ist. Er bewegt sich in guten Räumen, ist oft anspielbar. Aber es hat den Anschein, dass die Mannschaft sein Potenzial nicht genügend nutzt. Dabei könnte er ihr viel mehr geben. Ich bin aber überzeugt, dass er in den nächsten Monaten seine Leistung abrufen wird und bei der EM ein ganz wichtiger Spieler für uns ist.
Im letzten Länderspiel 2015 in Frankreich hat Mario Gomez sein Comeback bekommen. Ist er der Mann, der die Klose-Lücke schließen kann?
Wir haben Mario nominiert, weil er in den letzten Wochen und Monaten auf sich aufmerksam gemacht hat. Er ist ein Spieler, der absolute Fitness und Rhythmus braucht, dann hat er das Selbstbewusstsein, um seine Topleistung abzurufen. Wenn er fit ist, ist er ein absoluter Garant für Tore.
Jogi Löw vermittelt nicht nur Taktik - er bringt den Spirit
Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Ihrem Chef, Bundestrainer Joachim Löw?
Was Jogi Löw auszeichnet, ist neben den taktischen Qualitäten vor allem die Art und Weise, wie er ein Team führt. Wenn die Nationalmannschaft zusammenkommt, ist ein gewisser Spirit zu spüren. Jeder kommt gerne zur Nationalmannschaft, das gilt für die Spieler genauso wie für die einzelnen Mitglieder aus dem Team hinter dem Team. Da ist eine gegenseitige Wertschätzung, es herrscht eine sehr gute Arbeitskultur. Er überlässt mir auch unheimlich viel, was die Vorbereitung anbelangt. Es macht wahnsinnig viel Spaß, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Sie wohnen mit Ihrer Ehefrau Natascha und Ihrem Sohn David seit Jahren in Straubing – in der Peripherie von Ballungszentren. Haben Sie dieses Domizil bewusst gewählt, um sich in Ihrem stressigen Job in die Beschaulichkeit einer Kleinstadt zurückziehen zu können?
Es hat sich so entwickelt. Als ich in Hannover als Profi aufgehört habe, wollte ich ein Stück Abstand vom Fußball, und so sind wir 2006 nach Straubing gezogen, in die Heimatstadt meiner Frau. Ich habe mich sehr schnell wohlgefühlt und die Mentalität der Niederbayern schätzen gelernt. Egal, ob das im Biergarten ist, wo sich die Leute neben dich setzen, oder beim Metzger und Bäcker, wo du mit „Du“ angesprochen wirst. Das ist eine Lebensart, die mir sehr entgegenkommt. Auch medial wird man hier sicher nicht so beäugt wie in einer Großstadt. Meine Familie und ich können uns hier total entspannt bewegen.
Und wie wird Weihnachten in der Familie Schneider gefeiert?
Ganz beschaulich zu Hause. Die Schwiegermutter ist zu Besuch und wird zusammen mit meiner Frau was Schönes kochen.
Und Ihr Weihnachtswunsch?
In erster Linie natürlich Gesundheit für meine Familie. Und – sportlich gesehen – dass ich meinen Teil dazu beitrage, dass wir im neuen Jahr wahnsinnig erfolgreich sein werden.