"Deswegen habe ich Streit mit meiner Mama": Nagelsmann setzt sich und die DFB-Elf unter Druck

Frankfurt - Handauflegen? Frag' nach bei Rudi Völler. Kann er, hat er bewiesen. Im September gewann die nach der Entlassung von Hansi Flick befreite Nationalmannschaft unter "Tante Käthe" Völler, dem DFB-Sportdirektor als Ein-Spiel-Interims-Bundestrainer, gegen Vize-Weltmeister und EM-Topfavorit Frankreich mit 2:1. Mitreißend war's.
In der Gegenwart soll Julian Nagelsmann mit dem Länderspiel-Doppelpack, beginnend mit dem erneuten Duell gegen die Franzosen am Samstag in Lyon (21 Uhr, ZDF) sowie vier Tage danach in Frankfurt gegen die Niederlande geradezu Wunder bewirken. Erstens: Ergebnisse liefern. Bisher gab es unter Nagelsmann in vier Partien nur einen Sieg (gegen die USA) und zwei Pleiten, beim völlig verkorksten Länderspiel-Fenster im November (2:3 gegen die Türkei, 0:2 in Österreich).
DFB-Team gegen Frankreich: Was passiert, wenn Nagelsmann der Stimmungsumschwung nicht gelingt?
Viel mehr noch: Der Projektleiter Heim-EM soll für einen Aufschwung sorgen und – klingt vermessen, ist aber so – Euphorie bei den Fans erzeugen. Eine Neuauflage des Sommermärchens der WM 2006? Was sich nach der Klimakrise rund um die Nationalelf aktuell eher abenteuerlich bis utopisch anhört. Doch für einen Umschwung, gar eine Zeitenwende ist es nie zu spät.
Lyon, die Hauptstadt der Region Rhône-Alpes, wird auch die Stadt des Lichts genannt. Ob dem DFB und Nagelsmann mit dem Test gegen Frankreich um Superstar Kylian Mbappé ein solches aufgeht? Wird der Kick erhellend oder die Stimmungslage nicht mal drei Monate vor dem Eröffnungsspiel in München gegen Schottland noch düsterer? Was, wenn Nagelsmanns nun eingeleiteter Kaderumbruch und die Neusortierung der teaminternen Hierarchie durch seine mutige Nominierungspolitik (sechs Neulinge, drei Rückkehrer) auch nicht zum Erfolg führt?
"Sonst machen wir lieber Urlaub": Nagelsmann macht sich und der DFB-Elf Druck
"Ich kann mir kein Szenario vorstellen, bei dem Julian Nagelsmann nicht am 14. Juni gegen Schottland auf der Bank sitzt", sagte DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig zu "Bild". Selbst bei zwei krachenden Niederlagen gegen die bewusst ausgewählten hochklassigen Gegner? Frankreich scheint die aktuell größtmögliche Prüfung auf Länderspiel-Ebene aktuell darzustellen. Nagelsmanns Job-Garantie gilt also, wie sein im September geschlossener Vertrag, bis Turnierende – wann immer das sein wird. "Wenn man irgendwo teilnimmt, sollte man gewinnen wollen, selbst beim 'Mensch ärgere Dich nicht'", sagte er vor dem Klassiker gegen Frankreich und betonte: "Ich will immer gewinnen, deswegen habe ich auch viel Streit mit meiner Mama." Seine indirekte Drohung: "Sonst machen wir lieber Urlaub."
Kann Nagelsmann mit Rückkehrer Toni Kroos als neuem Fixpunkt im Mittelfeld und dem Auseinanderreißen des langjährigen Sechser-Duos Joshua Kimmich (wie bei Bayern nun auch beim DFB wieder Rechtsverteidiger) und Leon Goretzka (neben der Dortmunder Schar der Enttäuschten das prominenteste Nominierungsopfer) zugunsten des neuen Zehners Ilkay Gündogan ein Aha-Erlebnis schaffen? Können so die bösen Geister der drei vergangenen Turniere, die unter Vorvorgänger Joachim Löw und Vorgänger Hansi Flick versaubeutelt wurden, vertrieben werden?
"Dann werden wir wieder darüber sprechen": Wie geht es für Julian Nagelsmann nach der EM weiter?
In Sachen Aufstellung legte sich Nagelsmann fest, dass Kai Havertz als zentrale Spitze beginnen wird, ganz so wie bei Bayerns Champions-League-Gegner Arsenal. Maximilian Mittelstädt vom VfB Stuttgart wird auf der linken Abwehrseite seine Premiere feiern.
Nagelsmann, mit seinen immer noch erst 36 Jahren tatkräftig wie tatendurstig, hat angedeutet, sich ab der kommenden Saison auch gerne wieder in die tägliche Vereinsarbeit stürzen zu wollen. Er möchte vor dem EM-Start Klarheit über seine Zukunft. "Ich habe die Karten über meine Jobsituation sehr offen auf den Tisch gelegt", betonte Nagelsmann am Freitagnachmittag vor dem Abschlusstraining im Groupama-Stadion von Lyon und fügte hinzu: "Wenn es irgendwann etwas anderes zu vermelden gibt, werden wir wieder darüber sprechen." Rettig hatte vor der Abreise eine Binsenweisheit betont: "Erfolgreiche Trainer schickt man nicht weg." Und im Umkehrschluss?