Sepp Maier: "Wir hatten 1972 eine echte Traummannschaft"

München - Der jetzt 72-Jährige Sepp Maier wurde mit Deutschland als Nationalkeeper Europameister (1972) und Weltmeister (1974), mit den Bayern gewann er unter anderem drei Mal den Europokal der Landesmeister (1974 – 1976). Im AZ-Interview sprach der frühere Nationaltorwart über die Siegermannschaft der EM 1972.
AZ: Herr Maier, zur EM-Endrunde 1972 in Belgien fuhren nur vier Teams. Heutzutage unvorstellbar, die EM in Frankreich wird erstmals mit 24 Nationen ausgetragen, läuft über knapp fünf Wochen.
SEPP MAIER: Eine EM hatte keine große Popularität, es gab sie ja erst seit 1960, das war alles relativ überschaubar. Keine Gruppenphase, ein Sieg und du warst im Finale.
Wie hoch war unter den Spielern der Stellenwert dieses Mini-Turniers kurz vor Ende der Bundesliga-Saison? Bayern tütete seine Meisterschaft erst zehn Tage danach ein…
Eine EM war schon eine große Sache. Der Modus ist dir als Spieler wurscht, den kannst du nicht beeinflussen. Du willst einfach Europameister werden. Ich finde, dass es früher schwieriger war: jedes Spiel ein K.o.-Spiel, im Viertelfinale mit Hin- und Rückspiel. Heutzutage gibt es drei Gruppenspiele und du kannst auch weiterkommen, obwohl du eins verloren hast. Damals hat man unbedingt gewinnen müssen.
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„Wir wussten, was uns erwartet nämlich nicht viel“
Im Finale von Brüssel ging es gegen die UdSSR.
Aus unserer Sicht waren die Sowjetrussen nicht so stark, konnten uns nicht wirklich gefährlich werden. Kurz vor der EM hatten wir sie im Eröffnungsspiel des Münchner Olympiastadion mit 4:1 auseinandergenommen. Also wussten wir, was uns da erwartet – nämlich nicht viel. Ich glaube, dass sie auch zu großen Respekt vor uns hatten. Und wir fürchteten niemanden.
Es konnte nichts schiefgehen?
Nein, wir spürten, dass sie an diesem Tag kein echter Gegner für uns waren. Das 3:0 spricht eine deutliche Sprache, wir sind verdient Europameister geworden.
Im Rückblick wird die 72er Mannschaft, die „Jahrhundert-Elf“, als spielerisch bestes Nationalteam aller Zeiten betitelt – zu Recht?
Ich habe mir einmal das Spiel unserer sogenannten Jahrhundert-Elf komplett als Video angeschaut und gedacht: Das gibt’s doch nicht, das kann nicht wahr sein. So langsam! Wie in Zeitlupe! Das kann man mit der Athletik des heutigen Spiels nicht vergleichen.
Damals aber galt diese Schön-Elf als das Nonplusultra.
Natürlich hatten wir eine echte Traummannschaft, zu der Zeit war es der modernste Fußball. Fans und Kritiker haben uns so gefeiert, dass wir selbst gedacht haben: Ja, wie kann man besser Fußball spielen? Sind wir nicht perfekt? Und heute? Das Spiel ist physischer, athletischer, schneller, taktisch und technisch besser. Es gibt immer eine Steigerung. Es ist der Wahnsinn. Früher hast du die Räume gehabt, konntest in Ruhe deine Pässe schlagen. Angegriffen wurde ab der Mittellinie. Es ist ein anderes Spiel geworden. Die Perfektion, die die Mannschaften und Spieler heute haben, hatten wir damals bestimmt nicht. Wir haben früher Pässe geschlagen, heute sind es Schüsse, so pfeilschnell kommen die. Da hätten wir uns den Innenmeniskus kaputtgemacht.
Kurz vor Ihrem ersten großen Triumph als Nationalspieler mussten Sie im Finale handgreiflich werden. Sie waren richtig sauer auf einige deutsche Fans, haben sie in Brüssel vom Platz geschubst.
Ja, klar. In unserem Finale gegen die UdSSR waren nur noch wenige Minuten zu spielen, wir führten klar mit 3:0. Plötzlich standen tausende Fans am Spielfeldrand. Damals gab es noch nicht diese Mengen an Ordnern. Also musste ich die Fans zurückhalten.
Wurden Ihnen mulmig? Sieht man die TV-Bilder von damals heute, sieht die Situation bedrohlich aus.
Nein, mulmig nicht. Die waren ja alle brav und verständnisvoll, haben auf mich gehört. Einmal hat der Schiedsrichter Abseits gepfiffen und die Zuschauer meinten, es wäre der Schlusspfiff und sind auf den Platz gestürmt. Mir war klar, dass die nur feiern wollten.
Hatten Sie Sorge vor einem möglichen Spielabbruch?
Nein, nicht beim Stand von 3:0, ein paar Minuten vor Schluss. Ich dachte mir: Ach was, die bekommen wir schon runter. Ich war eher grantig, weil ich kommen sah, was nach Abpfiff passieren sollte: Plötzlich liefen 1000 oder 2000 Leute auf den Platz. Die waren euphorisch, hatten ihre Fahnen dabei – da kann schnell mal was passieren. Außerdem ist es ja so: Du kannst dann gar nicht mehr richtig zu deinen Mitspielern. Wir mussten in den Innenraum flüchten. Das hat mich geärgert. Jeder Spieler hing in einer Fantraube, alle irgendwo auf dem Platz verstreut. Ein furchtbares Durcheinander. Wir hatten nicht wirklich was von unserem Titel in diesem Moment. Irgendwann später hat man uns den Pokal in die Hände gedrückt und schnell ein Foto gemacht – mitten in einem Haufen von Leuten. Dieses Bild habe ich irgendwo zu Hause. Eine ganz andere Siegerehrung als heute. Damals gab’s nicht so eine Inszenierung und so ein Theater wie heute.
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„Meine Prognose: Deutschland kommt wieder ins Finale“
Wie wurde das 3:0 gegen die UdSSR, der erste EM-Titel Deutschlands, gefeiert?
Wir sind mit dem Bus ins Hotel gefahren, dort fand ein Essen für beide Finalteilnehmer statt, das war damals so üblich. Es muss nichts Besonderes gewesen sein, sonst könnte ich mich erinnern. Als uns dann langweilig wurde, sind wir in Gruppen um die Häuser gezogen, in irgendwelche Diskotheken.
Wird die deutsche Mannschaft nach dem Finale am 10. Juli in Paris etwas zu feiern haben?
Meine Prognose: Deutschland kommt ins Endspiel, denn bei den vergangenen zwei Turnieren 2008 und 2012 waren wir schon recht nach dran am Titel, hoffentlich klappt’s diesmal.