Schlimmer geht immer: AZ-Report zu den deutschen WM-Tiefschlägen
Zufall oder Sicht durch die schwarz-rot-goldene Brille? Von den 16 live erlebten Weltmeisterschaften (nur zwei ohne Finale) fehlte ausgerechnet in jenen fünf Turnieren besondere Faszination, in denen die Deutschen schon bald nicht mehr mitspielten. Jeweils ausgeschieden spätestens im Viertelfinale. Ein Ergebnis, das die deutsche Mannschaft bei diesem Turnier in Katar ja sogar mehr als nur erfreut hätte. Aus in der Vorrunde in Katar - welch Schmach, welch Blamage. Bei all diesen Turnieren drückte stets großer Zoff auf die Leistung und Stimmung in der Nationalmannschaft.
Die fünf - aus deutscher Sicht - schlechtesten Weltmeisterschaften (neben dem 2022-Debakel) überhaupt:
Chile 1962
Kritik an der Nominierung Horst Szymaniaks. Der Wuppertaler spielte beim AC Catania und habe damit seinen Platz in der Nationalmannschaft verwirkt, hieß es. 54er-Weltmeister und Kolumnist Max Morlock fand es sogar "unerhört", dass Sepp Herberger einen Spieler nominiert hatte, "der sein Geld im Ausland verdient. Ein Armutszeugnis für den deutschen Fußball."
Heftiger Streit entzündete sich auch ums Tor. Hans Tilkowski, die Nummer eins, sprang bei der Teamsitzung auf, riss Stühle um und verschwand. Herberger hatte den jungen Wolfgang Fahrian für den Auftakt gegen Italien bestimmt. In seinem zweiten Länderspiel und an seinem 21. Geburtstag hielt der Neuling bravourös das 0:0. Mit Mauertaktik verlor Deutschland im Viertelfinale sang- und klanglos gegen Jugoslawien 0:1. Weltmeister in diesem tristen Turnier wurde wieder Brasilien (3:1 gegen die CSSR), freilich ohne die Virtuosität von 1958 in Schweden. Pelé fehlte seit dem zweiten Vorrundenspiel wegen eines Muskelrisses.
Argentinien 1978
Fürchterlich! Die Militärjunta inszenierte und manipulierte das Turnier als Fest fürs Volk im Schatten der Folter. Argentinien wurde, wie vom Regime vorgegeben, Weltmeister (3:1 gegen die Niederlande). Staatspräsident Videla hatte angeordnet, von den gleichzeitig angesetzten Entscheidungsspielen das Brasiliens gegen Polen (3:1) vorzuziehen. Argentinien erzielte zwei mehr als die erforderlichen vier Tore gegen Peru, um das Endspiel zu erreichen.
Zu Titelverteidiger Deutschland: DFB-Präsident Hermann Neuberger lehnte eine Nominierung Franz Beckenbauers aus der amerikanischen "Operettenliga" ab und verbot den Spielern, sich politisch zu äußern. Bundestrainer Helmut Schön war sich zu fein, wegen Uli Stielike bei Real Madrid "Klinken zu putzen". Die Quittung für die Arroganz: die Schande von Córdoba, das peinliche 2:3 gegen das bereits ausgeschiedene Österreich. Sepp Maier sarkastisch: "Der Franz hätte hier auf einem Bein mitgespielt." Das Spiel um Platz drei gegen Brasilien wurde so verfehlt.
Auch, weil Kapitän Berti Vogts mit einem Eigentor zum 1:1 das Debakel eingeleitet hatte.
USA 1994
Nur 16 Jahre danach das erneut blamable Scheitern des Weltmeisters im Viertelfinale. 1:2 gegen Bulgarien. Stefan Effenberg spielte schon nicht mehr mit, rausgeworfen von Präsident Egidius Braun wegen des "Stinkefingers" von Dallas. Wieder war Berti Vogts der Sündenbock, diesmal als Bundestrainer. "Bild" forderte mit einem fingierten Rücktrittsgesuch: "Herr Vogts, unterschreiben Sie hier." Berti blieb und wurde 1996 Europameister.

Passend zum unspektakulären Fußball: Argentinien und Italien qualifizierten sich nur als Gruppendritte durch das bessere Torverhältnis fürs Achtelfinale. Zwei Tragödien prägten das Turnier: Diego Maradona wurde nach dem zweiten Spiel gegen Nigeria (2:1) wegen Dopings von der WM ausgeschlossen. Andrés Escobar wurde in Medellín erschossen, weil der Verteidiger mit einem Eigentor das Aus Kolumbiens eingeleitet hatte. Bis auf die erstmalige Entscheidung eines Finales durch Elferschießen bot das torlose Duell Brasilien - Italien keine Attraktion. Roberto Baggio machte beim Stand von 2:3 mit seinem Fehlschuss die Seleção zum vierten Mal zum Weltmeister.
Frankreich 1998:
Die Gewalt deutscher "Hooligans" überschattete diese WM im Freundesland. Das Ausscheiden im Viertelfinale gegen Kroatien (0:3) nach einer Roten Karte für Christian Wörns beim Stand von 0:0 ist weniger im Gedächtnis geblieben. Der Pöbel prügelte nach dem Gruppenspiel gegen Jugoslawien (2:2) in Lens einen auf dem Trottoir liegenden Gendarmen fast zu Tode. Egidius Braun machte unter Tränen seine Überlegung öffentlich, "die Mannschaft zurückzuziehen". Der Polizist Daniel Nivel lag Wochen im Koma, war auf dem rechten Auge erblindet und erlitt für den Rest seines Lebens unheilbare Hirnschäden.

Zum Fußball: Die Aufstockung auf 32 Länder trug nicht zur Anhebung des Niveaus gegenüber 1994 bei. Allein die Begeisterung der Franzosen für "Les Bleus" hielt das Land und das Turnier in Stimmung. Zum Superstar und Helden der Franzosen wurde Zinédine Zidane mit zwei Kopfballtoren zum 3:0-Final-Triumph der Grande Nation über Brasilien.
Russland 2018
Wie konnten es DFB und Team-Management zulassen, dass aus dem unklugen Skandalfoto Mesut Özils und Ilkay Gündogans mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan zu dessen Wahlkampf vor der WM "eine derartige Staatsaffäre gemacht wurde?" (Wolfgang Schäuble). "Das ist ein Jammer", sagte der Bundestagspräsident. Während Gündogan eine nachvollziehbare Erklärung abgab, brach Özil erst zwei Monate später sein Schweigen und sorgte mit bösartigen Tiraden für eine integrationspolitische Debatte. Seinen Rücktritt hatte der in Gelsenkirchen geborene Muslim nach dem Endspiel getwittert.
Die ohne Konsequenzen hingenommene Foto-Affäre schadete offensichtlich dem Teamgeist. Nach der 0:1-Niederlage zum Auftakt gegen Mexiko (mit Özil) war der Titelverteidiger nicht in der Lage, gegen Südkorea (mit Özil) das erforderliche 1:0 zu erzielen. Stattdessen 0:2 in der Nachspielzeit. Der Weltmeister Gruppenletzter. Das blamabelste Aus aller Zeiten, so schien es: bis jetzt, zur Wiederholung in Katar. Aus durchaus vergleichbaren gesellschaftspolitischen Debatten wie um die "One-Love-Binde".
Mit Sicherheit hätte in Russland Angela Merkel - wie vier Jahre zuvor in Rio - bei einem Finale mit Deutschland auch in Moskau auf der Ehrentribüne mitgefiebert. Stattdessen jubelte Emmanuel Macron, hemdsärmelig mit erhobener Faust, neben Putin über den 4:2-Sieg gegen Kroatien und den zweiten WM-Triumph Frankreichs.