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Reporter-Legende Hartmut Scherzer über die Wonne-WM 2006: Eine Nation feiert friedlich

AZ exklusiv: Reporter-Legende Hartmut Scherzer blickt auf die großen Fußball-Turniere, die auch in München stattfanden, zurück. Heute: Als eine Nation sich selbst friedlich bei der Heim-WM gefeiert hat.
von  Hartmut Scherzer
Die Vier vom Sommermärchen vor der Fanmeile: Torwart-Trainer Andreas Köpke, Bundestrainer Jürgen Klinsmann, sein damaliger Assistent Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff (v.l.).
Die Vier vom Sommermärchen vor der Fanmeile: Torwart-Trainer Andreas Köpke, Bundestrainer Jürgen Klinsmann, sein damaliger Assistent Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff (v.l.). © Marcus Brandt/dpa

München - Es gibt Legenden des Sports und es gibt Ikonen des Sport-Journalismus. Eine davon ist ohne jeden Zweifel Hartmut Scherzer (82).

Der langjährige Mitarbeiter der AZ nahm an insgesamt 15 Weltmeisterschaften (Weltrekord) und 21 Olympischen Spielen teil. Exklusiv für die Abendzeitung erinnert sich der Zeit- und Augenzeuge an die drei Fußball-Megaevents, die auch in München stattfinden, die WM 1974, die EM 1988 - und am Donnerstag an die WM 2006.

Was für ein perfekter Startschuss nach der zeremoniellen Eröffnungsfeier: Vom rechten Strafraumeck in den rechten Torwinkel schoss Philipp Lahm das 1:0 gegen Costa Rica. Schon nach sechs Minuten kam in der Münchner Allianz Arena Wiesn-Stimmung auf unter den 65 000 Zuschauern.

WM 2006: Lahm mit dem Startschuss für eine vierwöchige Party

Das vergleichbare "O'zapft is" des damals 22 Jahre alten Linksverteidigers des FC Bayern war der Auftakt zu einem vierwöchigen Festival des Fußballs, wie es die Welt in dieser ausgelassenen, farbenfrohen, völkerverbindenden Fröhlichkeit und Begeisterung noch nicht erlebt hatte. 4:2 siegte Deutschland. Ein Doppelschlag Miro Kloses und Torsten Frings korrigierten die beiden Gegentreffer von Paulo Wanchope. Sechs Tore im Eröffnungsspiel einer Weltmeisterschaft hatte es noch nie gegeben. Deutschland und seine Gäste aus aller Welt wähnten sich fortan in einem "Sommermärchen".

Perfekter Auftakt in die Heim-WM: Schweinsteiger (l.) und Frings feiern Lahm, der nach sechs Minuten das 1:0 gegen Costa Rica erzielt.
Perfekter Auftakt in die Heim-WM: Schweinsteiger (l.) und Frings feiern Lahm, der nach sechs Minuten das 1:0 gegen Costa Rica erzielt. © Daniel Karmann/dpa

Für einen seit fast vierzig Jahren herrschenden "Kaiser" war's damals die dritte Krönung. Nach dem Triumph als 28-jähriger Kapitän der Weltmeister von 1974 in München und der Eroberung des World Cups in Rom als 44-jähriger Teamchef gelang Franz Beckenbauer 2006 mit 60 Jahren ein in der Historie des Welt-Fußballs einmaliges Triple. Er war der Intendant dieser Festspiele.

Die WM 2006 lockte globale Größen nach Deutschland

Der Franz hatte nicht nur die Weltmeisterschaft zum zweiten Mal nach Deutschland geholt. Als Chef des Organisationskomitees verkörperte der ur-bayerische Weltmann den Slogan "Die Welt zu Gast bei Freunden". In einer einzigartigen "Welcome-Tour" - insgesamt dreimal rund um den Globus mit 168 Flugstunden an 50 Reisetagen zwischen Oktober 2005 und März 2006 - hatte der Gastgeber vorab alle 31 Gäste in deren Heimat besucht.

Staats- und Regierungschefs von Jacques Chirac bis Tony Blair, Hoheiten wie Japans Prinzessin Takamado und den niederländischen Kronprinzen Willem Alexander, afrikanische Präsidenten wie Ghanas Agyekum Kufuor und Laurent Gbagbo von der Elfenbeinküste. Auch dem Papst Benedikt XVI. machte der "Kaiser" seine Aufwartung, obwohl der Vatikan keines der 207 Mitglieder der Fifa ist.

Anfangs hatte es Beckenbauer für eine Schnapsidee seines "OK-Vize" Wolfgang Niersbach gehalten: "Bist denn deppert? Du kannst doch dem Papst keinen WM-Wimpel übergeben." Der Pontifex aus Regensburg freute sich aber über Geschenk und Geste.

Die Erfolge der Mannschaft des Motivators Jürgen Klinsmann (u.a. 2:0 gegen Schweden im Achtelfinale in München durch zwei frühe Tore von Lukas Podolski), das traumhaft schöne Wetter, das Public Viewing in den Großstädten, die friedlich-fröhlichen Fans aus aller Welt machten diese 18. Fußball-Weltmeisterschaft zu einer einzigartigen globalen Party.

Selbst das bittere WM-Aus war schnell überwunden

Der nationale Katzenjammer nach dem Ausscheiden im Halbfinale gegen Italien war spätestens bis zum Spiel um den dritten Platz und dem 3:1-Sieg über Portugal wieder in Feierlaune umgeschlagen. Zu unglücklich war diese 0:2-Niederlage gegen den späteren Weltmeister Italien gewesen durch die Last-Minute-Tore in der Verlängerung, in der 119. Minute durch Fabio Grosso und in der 120./+1 durch Alessandro Del Piero. Elferschießen - das wäre die große Chance gewesen, hatte Deutschland doch alle derlei finalen Entscheidungen bei Welt- und Europameisterschaften immer gewonnen.

Trauer und Jubel: Der Traum vom WM-Titel dahoam platzt für Klinsmann (l.) und Ballack durch die Halbfinal-Niederlage gegen Italien.
Trauer und Jubel: Der Traum vom WM-Titel dahoam platzt für Klinsmann (l.) und Ballack durch die Halbfinal-Niederlage gegen Italien. © Daniel_Dal_Zennaro/ dpa

Wie im nervenzerfetzenden Krimi des Viertelfinales gegen Argentinien (nach Verlängerung 1:1, Elfmeterschießen 4:2). Und stets war - schon traditionell - der Torwart der Held: Nach Toni Schumacher (1982 im Halbfinale gegen Frankreich) und Bodo Illgner (1990 im Halbfinale gegen England) nun Jens Lehmann mit seiner "Zettelwirtschaft". Die deutsche Nummer 1, dem Bundestrainer Klinsmann den Vorzug vor dem Titan Oliver Kahn gegeben hatte, las von einem Fetzen Papier die Schussgewohnheiten der Schützen ab und parierte so die Elfmeter von Roberto Ayala und - zum 4:2-Endstand - Esteban Cambiasso.

Trauer und Jubel: Der Traum vom WM-Titel dahoam platzt für Klinsmann (l.) und Ballack durch die Halbfinal-Niederlage gegen Italien.
Trauer und Jubel: Der Traum vom WM-Titel dahoam platzt für Klinsmann (l.) und Ballack durch die Halbfinal-Niederlage gegen Italien. © Oliver Berg/ dpa

Zum Sinnbild des deutschen Teamgeistes wurde jene Szene, als Kahn, sozusagen zur Nummer 12 degradiert, aber auf der Bank ein vorbildlicher "Reservist", vor dem Shootout mit einer großen Geste dem am Boden hockenden Rivalen Mut machte, mit einem rechten Handschlag nach Männerart und dabei mit der Linken Lehmanns Hinterkopf streichelte.

Große Geste: Oliver Kahn, vor der WM zum Reservisten degradiert, macht Jens Lehmann (r.) vor dem Elferschießen gegen Argentinien Mut.
Große Geste: Oliver Kahn, vor der WM zum Reservisten degradiert, macht Jens Lehmann (r.) vor dem Elferschießen gegen Argentinien Mut. © WDR/dpa

In einer Gegengeste räumten Klinsmann und Lehmann das Tor im Spiel um Platz drei für den 37-jährigen Kahn, der sich mit seinem 86. Länderspiel in Stuttgart aus der Nationalmannschaft verabschiedete. Als Vize 2002, Dritter 2006, aber leider nie Weltmeister als Krönung einer grandiosen Karriere.

Später Wermutstropfen: War die WM 2006 gekauft?

Neun Jahre später: "Der Spiegel" verwirrt die Republik. "Das zerstörte Sommermärchen" heißt der Titel im Oktober 2015 über die angeblich gekaufte Fußball-WM 2006. Das Sommermärchen zerstört? Unsinn! Die Partylaune der Fans aus aller Welt, das Bilderbuchwetter, die spannenden Spiele, die "Schweini-Poldi-Euphorie" haben dieses märchenhafte Fußballfest kreiert. Wer dabei war, hat die Wonnewochen im Juni und Juli genossen, wird sie nie vergessen.

Gemäß der Weisheit des oberfränkischen Dichters Jean Paul: "Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können." Jeder in diesem Paradies wird sich einen Teufel darum scheren, ob es beim Zuschlag für Deutschland am 6. Juli 2000 durch eine korrupte Fifa korrekt zugegangen war.

Gekauft? Weiterhin unbewiesen! Das Verfahren wurde im April 2020 eingestellt. Wegen Verjährung.

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