Reporter-Legende Hartmut Scherzer über die EM 1988: Einmal zweiter Sieger
Es gibt Legenden des Sports und Ikonen des Sport-Journalismus. Eine davon ist ohne jeden Zweifel Hartmut Scherzer (82). Der langjährige Mitarbeiter der AZ nahm an 15 Fußball-Weltmeisterschaften (Weltrekord) und 21 Olympischen Spielen teil.
Exklusiv für die Abendzeitung erinnert sich der Zeit- und Augenzeuge an die drei Fußball-Megaevents, die auch in München stattfinden: die WM 1974, die EM 1988 und die WM 2006.
Auslosung hätte Traum-Finale ermöglicht
Es hätte so schön gepasst. Deutschland gegen die Niederlande im Finale der EM 1988 am 25. Juni im Münchner Olympiastadion. Derselbe Ort, dieselben Nationen. Ein Endspiel für Nostalgiker und Romantiker, die den deutschen 2:1-Triumph 14 Jahre zuvor noch im Kopf hatten und im Herzen trugen. Eine klassische Revanche, ein Wiedersehen zweier Protagonisten von einst: Franz Beckenbauer, der Kapitän des deutschen Weltmeisters 1974, kümmerte sich als Teamchef um die Erfolge der Nationalmannschaft. "Vize" Rinus Michels, den sie den "General" nannten, war wie schon während der Ära Johan Cruyff nun Bondscoach der Generation Ruud Gullit.
Die Auslosung der UEFA schien dieses Szenario zu ermöglichen. Zwei Vierergruppen boten günstige Voraussetzungen. Deutschland (Gruppe 1) und die Niederlande (Gruppe 2) mussten beide Erster werden. Oder beide Zweiter, was schwieriger kalkulierbar war. Doch wie spottete einst Wilhelm Busch: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Genau: Deutschland wurde zielstrebig Gruppensieger durch ein 1:1 gegen Italien und jeweils ein 2:0 gegen Dänemark und Spanien.
Die Niederlande aber verpatzten zur allgemeinen Überraschung den Auftakt, wurden nur Zweiter nach einem enttäuschenden 0:1 gegen die UdSSR, einem überraschenden 3:1 gegen den Favoriten England und einem kümmerlichen 1:0 gegen Irland. Ergo: Die WM-Revanche 1988 fand bereits im Halbfinale statt, in Hamburg.
Rudi Völler begeistert München
München hatte davor im Olympiastadion das Gruppen-Endspiel Deutschland gegen Spanien erlebt und den Doppel-Torschützen Rudi Völler gefeiert. Die "Ruuudi, Ruuudi"-Rufe gingen dem bis dahin seit 647 Minuten tor- und glücklosen römischen Legionär runter wie Öl. "Die Tore waren ein Knackpunkt meiner Karriere", sollte Völler später sagen und von den Münchner Fans schwärmen. Deren "Nestwärme" fehlte in Hamburg, wo 14.000 "Oranje"-Fans unter den 61.000 Zuschauern im Volksparkstadion mit ihren dröhnenden Gesängen und inbrünstigen "Hup Holland"-Chören sich einen Stimmungsvorteil verschafften.
Deutschland verlor 1:2. Franz Beckenbauer meint rückblickend, die "unglücklichste Niederlage der letzten Jahrzehnte" gesehen zu haben. Diesem Eindruck konnte man sich durchaus anschließen. Nach den Elfmeter-Toren von Lothar Matthäus (55.) und Ronald Koeman (74.) schien sich eine Verlängerung anzubahnen. Das Duell zwischen Jürgen Kohler und Marco van Basten, der alle drei Treffer zum 3:1 gegen England erzielt hatte, sollte dieses Halbfinale entscheiden.
Schon den Strafstoß lastete der rumänische Schiedsrichter Igna einer harten Rettungsaktion Kohlers gegen van Basten an. In der entscheidenden Schlussszene war van Basten zum ersten und einzigen Mal im Zweikampf schneller als Kohler und schob im Fallen den Ball an Torwart Eike Immel vorbei ins lange Eck. 1:2 in der 89. Minute. Das Ende vom Traum, ein zweites München zu erleben.
Der Kaiser: Tragische Niederlage
Mit versteinerter Miene diktierte Beckenbauer den Journalisten: "Die Umstände der Niederlage sind tragisch. Wir haben das Spiel über weite Strecken kontrolliert. Natürlich ist Holland ein würdiger Finalist. Aber wir wären es auch gewesen. Meine Spieler haben zum Teil begeisternden Fußball geboten."
Was der Kaiser in diesem Moment nicht ahnen konnte und in späteren Analysen auch nie andeutete: Diese EM-Fighter von 1988 sollten zwei Jahre später in Italien, in Rom, glanzvoll unter seiner Regie Weltmeister werden. Unvorstellbar für Beckenbauer nach der EM im eigenen Land und der "abhanden gekommenen Spielkultur vor lauter Konditionsbolzerei", wie er in einem "Sports"-Interview der Bundesliga vorwarf.
Die Zeiten änderten sich zum Guten: Lothar Matthäus, Kapitän und Leader, wechselte direkt nach der EM mit Andy Brehme zu Inter Mailand. Jürgen Klinsmann folgte ein Jahr später. Rudi Völler (AS Rom) und Thomas Berthold (Hellas Verona/ab 1989 AS Rom) waren bereits "Italiener" und reiften im Land des Gastgebers für "Italia Novanta". Dazu gesellten sich Bodo Illgner (nur auf der Bank), Guido Buchwald, Jürgen Kohler, Hans Pflügler, Olaf Thon und Pierre Littbarski. Diese elf Halbfinalisten von 1988 eroberten zwei Jahre später zum dritten Mal den WM-Titel für Deutschland. Auch ohne Endspiel gehörte München zu den Geburtsstädten der Weltmeister-Mannschaft von 1990.
München als holländische Metropole des Triumphes
Für die Niederlande sollte München als die Metropole ihres größten Triumphes in die holländische Fußball-Geschichte eingehen. Was der Ikone Cruyff versagt geblieben war, gelang den neuen Stars Ruud Gullit und van Basten. Das kongeniale Duo des AC Mailand setzte nach dem Fehlstart gegen die UdSSR die Glanzlichter in diesem Turnier. Besonders im Münchner Finale, wo im Olympiastadion Orange die Farben Schwarz-Rot-Gold unter den 72.000 Zuschauern völlig verdrängte, brillierte das Oranje-Team. Gullit und van Basten schossen auch die Tore zum 2:0-Sieg über die starken Sowjets, die im Halbfinale Italien überraschend 2:0 geschlagen hatten.

Mit den Holländern genoss bei deren Fest in Oranje die Fußball-Welt das Traumtor des 23-jährigen van Basten zum 2:0. Bei einem High-Speed-Konter flankt Arnold Mühren von links nach rechts, van Basten drischt mit dem rechten Fuß kurz vor der Torauslinie den wie vom Himmel fallenden Ball in den entfernten Torwinkel. Was für ein sensationeller Volleyschuss! Rinat Dassajew, damals einer der besten Torhüter der Welt (88 Länderspiele), hat keine Chance bei diesem geometrischen Wundertreffer. Trotz eines Gerd Müller: Das Tor des Jahrhunderts schoss in München van Basten.
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