Ottmar Hitzfeld im AZ-Interview: "Nun ist bei der Schweiz der Knoten geplatzt"

EM-Gespräch mit Ottmar Hitzfeld: Der jetzt 72-Jährige gewann mit Borussia Dortmund (1997) und dem FC Bayern (2001) zwei Mal die Champions League, die Münchner trainierte er von 1998 bis 2004 und 2007/2008, danach war er bis 2014 der Nationaltrainer der Schweiz.
AZ: Herr Hitzfeld, wie haben Sie den Fernsehabend am Montag mit dem Elfmeterschießen zwischen der Schweiz und Frankreich im EM-Achtelfinale erlebt?
OTTMAR HITZFELD: Das war unglaublich spannend und intensiv. Mit einem dramatischen Ende, dem historischen Erfolg für die Schweiz. Gleichzeitig sehr bitter für Kylian Mbappé, das darf man nicht vergessen.
Hitzfeld: "Ich kenne die Qualitäten dieser Mannschaft"
Mit dem Erfolg über den großen Nachbarn, den amtierenden Weltmeister, haben die Schweizer erstmals das Viertelfinale einer EM erreicht, bei einer WM war ihnen das zuletzt 1954 gelungen. Hätten Sie das für möglich gehalten?
Ja, ich habe ihnen das zugetraut. Ich kenne die Qualitäten dieser Mannschaft, diesmal haben sie es auch abrufen können. Wenn die Schweizer nicht in der Favoritenrolle sind, und die Franzosen waren ja der klare Favorit, dann sind sie meist stärker, als wenn sie selbst höher als ihr Gegner eingestuft werden. Sie konnten nur gewinnen. Nun ist der Knoten geplatzt, endlich wurde das Achtelfinale überstanden.

Wie weit kann es noch gehen für die Schweizer? Die nächste Hürde ist ebenfalls haushoch. Am Freitag wartet Spanien.
Wenn man Frankreich eliminiert, kann man auch gegen Spanien weitergekommen. Ich halte das für möglich. Spanien ist nicht mehr das Spanien, das es in den Jahren ihrer großen spielerischen Dominanz zwischen 2008 und 2012 war.
Hitzfeld: "Man kann immer eine Sensation schaffen"
Sie sprechen die goldene Ära der Spanier an: Europameister, Weltmeister und erneut Europameister. Und nun?
Die Kroaten haben gezeigt, wie verwundbar die Spanier aktuell sind und sie noch in eine Verlängerung gezwungen. Spanien ist aktuell ein Team auf der Suche, personell im Umbruch. Das haben die bisherigen Ergebnisse gezeigt. Aber man kann immer eine Sensation schaffen. Auch 2010 in Südafrika, als die Spanier auf ihrem Zenit waren, konnten wir mit der Schweizer Nationalmannschaft einen historischen Erfolg erzielen.
Zum Vorrundenauftakt überraschten Sie als Chefcoach die Spanier mit einem 1:0, scheiterten jedoch als Dritter der Gruppenphase hinter Spanien und Chile. Vier Jahre später in Brasilien unterlagen Sie in der Gruppenphase Frankreich mit 2:5, kamen durch Erfolge gegen Ecuador und Honduras ins Achtelfinale, unterlagen in der Verlängerung Argentinien mit 0:1. Mit dabei damals wie heute: Xherdan Shaqiri, Fabian Schär, Mario Gavranovic, Admir Mehmedi, Haris Seferovic, Ricardo Rodríguez und Anführer Granit Xhaka.
Seferovic, Rodríguez und Xhaka wurden ja 2009 in Nigeria U17-Weltmeister. Ich habe Granit schon mit 18 in der A-Nationalelf spielen lassen. Vor einem Spiel in Wembley gegen England habe ich mit ihm gesprochen, ob er sich das zutraut. Da hat er mir geantwortet: Ja, natürlich. Warum nicht?
"Vladimir Petkovic hat sich durchgesetzt"
Von 2012 an spielte Xhaka vier Jahre für Borussia Mönchengladbach, seit 2016 ist er beim FC Arsenal unter Vertrag. Was zeichnet den Kapitän der Schweizer aus?
Granit ist ein überragender Spieler, sehr ballsicher, mit hoher Spielintelligenz. Er hat viel Selbstbewusstsein, kann ein Team dirigieren, war schon immer ein Leader-Typ. Unterm Strich: Eine fantastische Karriere, die noch nicht beendet ist.
Vladimir Petkovic wurde nach der WM 2014 ihr Nachfolger als Schweizer Nationalcoach. Was zeichnet den 57-Jährigen, gebürtig in Sarajevo, aus?
Er hat das Team weiterentwickelt und großen Anteil am Erfolg. Auch wenn mal ein Sturm nach schlechten Ergebnissen kam, hat er die Ruhe bewahrt - und das auch ausgestrahlt. Er hat sich durchgesetzt.
"Talente werden in der Schweiz sehr gut ausgebildet und gefördert"
Zig Bundesligaspieler stehen im Kader der Schweizer, dazu Italien-und Portugal-Legionäre sowie Premier-League-Spieler wie Xhaka und Shaqiri. Ist diese Erfahrung der Schlüssel zum Erfolg?
Bis auf wenige Ausnahmen wie Silvan Widmer vom FC Basel spielen alle im Ausland, machen dort wertvolle Erfahrungen und wachsen. Aufgrund der Sprache ist es für sie einfacher, in der Bundesliga Fuß zu fassen. Außerdem werden Talente in der Schweiz sehr gut ausgebildet und gefördert. Dazu kommt, dass Spieler mit Migrationshintergrund viel Leidenschaft und Leidensfähigkeit mitbringen, den unbedingten Willen haben, es schaffen zu wollen. Sie sehen im Fußball die große Chance, einen sozialen Aufstieg zu erreichen.