Oliver Kahn: „Es fehlt ein Plan B“

Hier erklärt Ex-Nationalspieler Oliver Kahn, warum die DFB-Auswahl gegen Schweden zusammenbrach, wie man hätte gegensteuern müssen und was aus Löw wird: „Das geht nicht spurlos an ihm vorüber.“
Der frühere Nationaltorwart und Kapitän der DFB-Auswahl und des FC Bayern arbeitet jetzt als Fußball-Experte beim ZDF.
AZ: Herr Kahn, Spieler, die ihre Karriere beendet haben, meinen immer scherzhaft: So etwas wie das 4:4 der Nationalelf nach 4:0-Führung gegen Schweden ist uns ja nie passiert! Also: Ehrlich?
OLIVER KAHN: Ich erinnere mich an ein Qualifikationsspiel gegen Albanien (im Oktober 1997, d. Red.), da haben wir immer wieder geführt, die Albaner glichen immer wieder aus. Am Ende haben wir 4:3 gewonnen.
Das ist der Unterschied. Was sagen Sie zum „Kunststück", aus einem 4:0 keinen Sieg zu machen?
Das war schon erstaunlich. Zumal die deutsche Mannschaft bis zur 60. Minute das Spiel ganz klar dominiert hat.
Einmalig dämlich. Wir stellen uns Oliver Kahn in dieser Situation vor: Sie hätten spätestens nach dem 4:3 einen Mitspieler durchgeschüttelt.
Eines ist klar: Es muss in einem Spiel wie gegen die Schweden irgendwann einmal vorbei sein, sich nur spielerischer Mittel zu bedienen. Spätestens nach dem 4:2 gilt es, den Fokus auf Ergebnissicherung, auf defensive Stabilität zu legen. Es beschleicht einen das Gefühl, dass die Mannschaft auf Extremsituationen nicht angemessen reagieren kann, es fehlt ein Plan B.
Keiner der Führungsspieler hat Wachmacher gespielt.
Wenn ich für das ZDF als Experte im Einsatz bin, verfolge ich die Spiele ja meist von sehr nahe am Spielfeldrand aus und da unten bekommst du das Miteinander der Akteure ganz gut mit. Auf dem Platz herrscht wenig Kommunikation, wenig Stimmung. Gegen Schweden hatte man nach dem 4:2 das Gefühl, es breitet sich kollektive Angst und Lähmung aus.
Was geht in einem Spieler vor, wenn es läuft? 2:0, 3:0, 4:0 – kaum Gegenwehr.
Du schaltest bei solch einer Führung automatisch einen Gang runter. Jeder macht weniger. Der Gegner wird nicht mehr so ernst genommen. Das Spiel ist praktisch abgehakt. Keiner glaubt mehr, dass da noch was anbrennen kann.
Und am Dienstag?
Sie haben es nicht mehr geschafft, die Aggressivität und die Körpersprache wieder hochzufahren. Nach dem 4:2 haben die Spieler auf einmal angefangen nachzudenken. Das kennt man doch: Wenn man klar führt und den Gegner dann wieder aufbaut, hat man plötzlich viel mehr zu verlieren. Und dann kann es schnell gehen. Es steht 4:3 und dass du dann nervös wirst, ist die logische Folge. Der Gegner wächst plötzlich über sich hinaus. Aber die Mannschaft, die auf dem Platz stand, war so erfahren, dass das natürlich nicht passieren darf. Und mir ist noch etwas anderes aufgefallen.
Was denn, bitte?
Das relativ körperlose Spiel der deutschen Elf. Löw verlangt von seinen Spielern eine hohe Intelligenz in der Zweikampfführung. Er will kein überflüssiges Foulspiel in der Gefahrenzone 30 Meter vor dem Tor sehen. Allerdings gibt es Phasen, da müssen Zweikämpfe auch mal rustikal geführt werden. Der Gegner muss spüren, dass da nichts mehr geht. Bei allen Gegentoren war die deutsche Mannschaft in Überzahl aber immer einen Schritt zu weit weg vom Gegenspieler.
Vorne hui, hinten pfui - eine gefährliche Tendenz?
Die deutsche Viererkette zeigt Schwächen, wenn sie wie auch gegen Österreich unter Druck gesetzt wird. Individuelle Fehler kommen dann noch dazu wie von Badstuber vor dem 4:2 oder von Boateng und Mertesacker vor dem 4:3 durch die Schweden. Trotzdem sehe ich das nicht als ein alleiniges Problem der Abwehrspieler. Auch im Mittelfeld und auf den Außenbahnen bekamen die Schweden in den letzten 30 Minuten immer wieder Möglichkeiten sich durchzusetzen.
Sie sind ein Vertreter der These: Offensive gewinnt Spiele, die Defensive Titel.
Wenn man sich die Spanier anschaut, sieht man, dass die Defensive die Basis ihres Spiels ist, das Zu-Null ist immer das Grundlegende. Jedes noch so offensiv ausgerichtete System kann nur erfolgreich sein, wenn es auf solidem Fundament fußt. Auch wenn es mit dem späten Ausgleichstor der Franzosen nun einmal nicht geklappt hat. Aber die Spanier hätten all ihre Titel nicht ohne eine stabile Defensive gewonnen. Wobei Defensive nicht gleichbedeutend mit tief stehen ist. Ich meine die sofortige Bereitschaft einer Mannschaft, den Ball nach Ballverlust wieder zu erobern. Und zwar über 90 Minuten...
Wie sehen Sie die Entwicklung von Joachim Löw?
Seit der Europameisterschaft muss er sich mit mehr Kritik auseinander setzen. Das geht nicht spurlos an ihm vorüber. Seine Aufgabe wird sein, die Mannschaft nicht nur taktisch weiterzuentwickeln, sondern ihr vor allem mentale Stabilität zu verleihen.
Am ZDF-Mikrofon haben Sie den Bundestrainer schon nach dem 1:3 gegen Argentinien im August angegangen.
Ich habe niemanden angegangen. Ich habe sachlich kritisiert. Es fällt schon länger auf, dass die Mannschaft zu viele Gegentore zulässt. Wenn wir mit dem FC Bayern in der Vorbereitung einer Saison zu viele Gegentreffer bekommen haben, selbst in Freundschaftsspielen, dann war das für mich immer ein Alarmsignal. Mir war klar: So wird es schwer, Titel zu gewinnen.
Liebe Leser von abendzeitung-muenchen.de,
in einer früheren Fassung dieses Interviews ist der Passus "Einmalig dämlich" am Beginn einer AZ-Frage irrtümlicherweise am Ende einer vorangestellten Antwort von Oliver Kahn erschienen. Dadurch wurde diese Aussage fälschlicherweise Herrn Kahn zugeschrieben. Wir bedauern diesen Fehler bei der Online-Bearbeitung des Textes zutiefst und entschuldigen uns in aller Form bei Herrn Kahn.
Ihre AZ-Onlineredaktion