Olaf Thon: "Leon Goretzka bringt Dynamik und Torgefahr"

AZ-Interview mit Olaf Thon: Der 55-jährige frühere Star des FC Bayern spielte insgesamt 52 Mal für Deutschland. Er wurde 1990 Weltmeister und 1986 Vizeweltmeister.
AZ: Herr Thon, Bundestrainer Joachim Löw scheint gezwungen, seine Startformation erstmals bei dieser EM-Endrunde umbauen zu müssen, da Thomas Müller wegen seiner Kapselverletzung im Knie gegen Ungarn fehlen wird. Wie schwer wiegt Müllers Ausfall?
OLAF THON: Generell finde - und hoffe - ich, dass wir gegen die Ungarn auf die Dienste unseres Superprofis verzichten können, da wir schon mit einem Bein im Achtelfinale stehen. Ein Punkt reicht fürs Weiterkommen. Ich sehe nach dem wirklich überzeugenden Auftritt der deutschen Mannschaft beim 4:2 gegen Portugal überhaupt kein Problem. Normalerweise sagt man: Form schlägt Klasse. Aber dieses deutsche Team ist von der Qualität der Einzelspieler und im Kollektiv einfach besser als die Ungarn und daher klarer Favorit.
Auch Sané und Werner wären eine Option
Wer sollte den offensiven Mittelfeldspieler Müller aus Ihrer Sicht nach ersetzen?
Leon Goretzka kann die Position spielen, ihn würde ich mit seiner Dynamik und Torgefahr gerne in der Anfangsformation sehen. Aber auch Leroy Sané oder Timo Werner könnten meiner Meinung nach jetzt in die Mannschaft kommen, dann müsste Jogi Löw jedoch etwas umstellen. Aber wie ich den Bundestrainer kenne, zieht er jetzt sein System durch. Da ist er ja stur - im positiven Sinne.
Sollte Löw gegen die defensiv ausgerichteten Ungarn wieder zu einer Viererkette in der Abwehr zurückkehren?
Im Grunde sind sie mit einer Dreierkette und den drei nominellen Innenverteidigern Mats Hummels, Antonio Rüdiger und Matthias Ginter hinten einer zu viel. Aber mich würde es nicht überraschen, wenn Löw bei seinem Spielsystem bleibt. Außerdem kann man ja auch im Spiel umstellen und reagieren - je nach Spielstand. Er verlangt ja von seinen Jungs taktische Flexibilität.
"Es gibt nur einen Thomas Müller"
Als Lautsprecher, Antreiber, Dauerläufer und Koordinator des Pressing-Systems kann keiner Müller ersetzen, oder?
Nicht direkt. Es gibt nur einen Thomas Müller. Aber auch Ilkay Gündogan und Toni Kroos sowie vor allem Joshua Kimmich sind Spieler, die lautstark organisieren können. In diesem einen Spiel gegen Ungarn sehe ich da kein Problem. Höchstens die Gefahr, dass wir uns zu sicher fühlen. Im Grunde können wir uns nur selbst schlagen. Die Ungarn haben zwar Frankreich ein 1:1 abgetrotzt, aber das war in Budapest, und nun liegt der Heimvorteil auf Seiten der Deutschen.
Sollte Serge Gnabry, der mit die höchste Laufleistung der DFB-Elf hat, gegen Ungarn pausieren, um Sané eine Chance von Beginn an zu geben?
Sané ist für mich der ideale Unterschiedspieler für das Konterspiel. Wenn man führt, kann man ihn gut bringen. Und Gnabry hat mich gegen Portugal mit seiner Ballsicherheit überzeugt. Er hat vorne für viel Entlastung gesorgt.
Löw muss keine Kompromisse mehr machen
Bei der WM 1990 hat Teamchef Franz Beckenbauer seine Mittelfeldspieler auch durchgewechselt. Neben Lothar Matthäus, Thomas Häßler und Pierre Littbarski kamen Uwe Bein, Andy Möller und Sie - etwa im Halbfinale gegen die Engländer - zum Einsatz. Wie wichtig ist das Durchwechseln im Lauf einer Endrunde?
Als Trainer muss man im Laufe eines Turniers die richtige Balance finden zwischen den Stammspielern und denen, die hintendran und daher zunächst unzufrieden sind. Mein Gefühl sagt mir, dass sich das System im Laufe des Turniers ändern wird. Ich denke, dass wir mit Kimmich in der Zentrale noch aggressiver gegen den Ball arbeiten könnten. Aber wer weiß: Diese EM ist ja das letzte Turnier von Löw als Bundestrainer, da will er es sicher noch einmal allen zeigen. Andererseits muss er auch keine Kompromisse mehr machen.