Nicht-Tore, Elfer-Dramen, Posen: Die große Historie zwischen Deutschland und England
München - Drama und Trauma prägen die spannende Historie des Klassikers Deutschland gegen England.
Mutter aller Aufregungen ist das legendäre Wembley-Tor. Vier Verlängerungen und zwei Elferschießen bei zwölf Weltmeisterschaften und Europameisterschaften inklusive Qualifikation boten Spektakel voller Erinnerungswert.
AZ-Reporter Hartmut Scherzer hat bis auf den 2:0-Sieg Englands im EM-Achtelfinale 2021 in London alle Spiele live im Stadion gesehen. Eine Rückschau...
Das Wembley-Tor (WM-Finale 30.7.1966 London n.V. 2:4)
Wir Journalisten können von den Presseplätzen aus nicht sehen, ob der Ball hinter der Linie war. Sachlich-nüchtern beschreibe ich die Geburtsminuten des Wembley-Tors: "Hurst jagte aus kurzer Entfernung einen knallharten Schuss unter die Latte, es war nicht festzustellen, ob der zu Boden prallende Ball die Linie überschritten hatte oder nicht.
Auch Schiedsrichter Dienst war sich nicht im Klaren, so dass der Schweizer den sowjetischen Linienrichter Bachramow befragte. Erst dessen Bestätigung brachte die Anerkennung des 3:2 für die Engländer." Bundestrainer Helmut Schön sagt unmittelbar nach Schlusspfiff: "Es war sicher sehr schwer, beim Stand von 2:2 diese Entscheidung in so sauberer sportlicher Haltung hinzunehmen."
Seelers Hinterkopfballtor (WM-Viertelfinale 14.6.1970 Leon, Mexiko, n.V. 3:2)
Wann hat Weltmeister England je einen 2:0-Vorsprung aus der Hand gegeben? Es ist furchtbar heiß im Estadio Municipal. 34 Grad im Schatten. Anstoß zwölf Uhr mittags. Franz Beckenbauer rafft sich zu einem seiner unwiderstehlichen Soli auf. Es ist die 68. Minute, als der 24-Jährige durchstartet, mit einem Weitschuss vorbei an Ersatztorwart Peter Bonetti das 1:2 schießt.

Der Kaiser reißt die Kameraden aus der Resignation. Durch ein ulkiges Hinterkopfballtor Uwe Seelers zum 2:2 (82.) geht es in die Verlängerung. Gerd Müller, wer sonst, schießt auf akrobatische Weise das Siegtor. Nach der zweistündigen Hitzeschlacht schwelgt die Weltpresse in Superlativen: "Fantastisch! Außergewöhnlich! Atemberaubend."
Netzers "Swingrhythmus" (EM-Viertelfinale, Hinspiel, 29.4.1972 London 3:1)
Günter Netzer (77) erinnert sich an die Unterhaltung vor dem Spiel in der Kabine heute noch, "als wäre es gestern gewesen". Er habe zu Beckenbauer gesagt: "Wenn wir weniger als fünf Stück bekommen, wäre das ein großartiges Resultat." Der Kapitän murmelte nur: "Ja mei."
Ihre Klubmannschaften steckten in einer Krise. Berti Vogts fehlte. "Außerdem war Wolfgang Overath verletzt. Sonst hätte ich gar nicht gespielt." Doch dann inszenierten die kongenialen Strategen von Borussia Mönchengladbach und des FC Bayern einen "Swingrhythmus", wie Bundestrainer Helmut Schön schwärmte, der im Wembley-Stadion zum ersten Sieg einer deutschen Nationalmannschaft führte. Deutschland siegte in London 3:1 durch Tore von Uli Hoeneß (26.),

Netzer (85./Elfmeter) und Gerd Müller (88.). Das verwirrende Wechselspiel zwischen Beckenbauer und Netzer war einzigartig und überraschte die Engländer. Fünf Wochen liegt der 50. Jahrestag dieses historischen Ereignisses zurück. Das Rückspiel in Berlin endet 0:0. Deutschland wird Europameister.
Illgners Elfer-Parade (WM-Halbfinale 4.7.1990 Turin n.V. 1:1, ES 4:3)
Italien ist die WM-Heimat der Deutschen. Brehme, Matthäus und Klinsmann spielen bei Inter Mailand, Völler und Berthold bei AS Rom. Das 1:1 durch Brehme (60.) und Gary Lineker (80.) übersteht auch die Verlängerung. Der brasilianische Schiedsrichter Wright pfeift zum Elfmeterschießen. Lineker, Brehme, Beardsley, Matthäus, Platt, Riedle treffen. Dann ist Stuart Pearce an der Reihe.

Bodo Illgner wehrt den Ball mit dem Knie ab. Olaf Thon verwandelt sicher. Dann knallt ein nervenschwacher Chris Waddle den Ball in den Nachthimmel. Deutschland steht im Endspiel gegen Argentinien und wird Weltmeister. "Ich habe wenige Spiele in Erinnerung, die so gut waren", sagte Teamchef Franz Beckenbauer. "Es ist schon bedauerlich, dass ein solches Spiel durch Elfmeterschießen entschieden wird."
Southgates Rucksack (EM-Halbfinale 26.6.1996 London n.V. 1:1 ES 6:5)
Im Wembley-Stadion steht es im Elferschießen 5:5. Als sechster Schütze scheitert Gareth Southgate an Andreas Köpke. Andy Möller schießt Deutschland ins Finale und posiert danach arrogant-spöttisch. Die Mannschaft von Berti Vogts wird Europameister. Southgate ist der Versager.

22 Jahre später: WM-Achtelfinale in Moskau England-Kolumbien n.V. 1:1, Elferschießen 4:3. Nach sechsmal bei WM und EM erlittenem Knockout im Shootout scheint der Elfmeter-Fluch gebannt. Teammanager ist Gareth Southgate. Mit der Erinnerung an 1996 stelle ich ihm auf der Pressekonferenz die Trauma-Frage. "Well, it will never be off my back. That is something that will live with me for ever." Frei besetzt: "Diesen Rucksack werde ich niemals los. Damit werde ich ewig leben." Wie weiterhin mit dem Elfer-Schicksal. Mit Teammanager Southgate (50) verliert England das Elfer-Drama des EM-Endspiels 2021 in Wembley gegen Italien 2:3.
Das München-Debakel (WM-Quali, Rückspiel 1.9.2001, München 1:5)
Oliver Kahn, der Kapitän, spricht vom "Super-GAU" und fängt mit der Kritik bei sich selbst an: "Ich stelle andere Ansprüche an mich. Ich war bei allen Gegentoren irgendwie dran, aber es hat immer ein bisschen gefehlt. Da hätte man auch eine Sporttasche ins Tor stellen können."
Dreimal lässt Michael Owen den Titan unglücklich aussehen. Sündenbock aber ist ein lethargischer Michael Ballack, der vor 65 000 Zuschauern im Olympia-Stadion kampflos die strategische Hoheit an einen brillanten David Beckham abgibt. Teamchef Rudi Völler erscheint nicht zur Pressekonferenz, sondern eilt nach dem Abpfiff sofort ins Krankenhaus, in das sein Vater Kurt (75) nach einem Zusammenbruch auf der Tribüne eingeliefert wurde. Das Debakel kostet trotz des 1:0 (Didi Hamann) zuvor in London den Gruppensieg, qualifiziert sich in den Playoffs aber noch und wird Vizeweltmeister 2002.
Das Bloemfontain-Tor (WM-Achtelfinale 27.6.2010 Bloemfontain 4:1)
Das nicht gegebene Ausgleichstor der Engländer zum 2:2 ist das - umgekehrte - Pendant zum Wembley-Tor. Der klare Unterschied: Nach Frank Lampards Lattenpraller (38.) springt der Ball eindeutig hinter der Torlinie auf, bevor Manuel Neuer zupackt.
Nur zwei Minuten nach Matthew Upsons Anschlusstor. "Das Wichtigste in diesem Spiel war das 2:2", beklagt sich Team-Manager Fabio Capello. Doch weder Schiedsrichter Larrionda noch Assistent Espinosa (beide Uruguay) haben richtig hingeschaut. "Das Spiel wäre anders gelaufen. Ich kann diesen Fehler nicht verstehen", empört sich Capello. Nach der Fehlentscheidung erzielt Thomas Müller zwei Tore zum 4:1 und spricht von "ausgleichender Gerechtigkeit" für Wembley. Deutschland erreicht das Viertelfinale gegen Argentinien.