Netzer: Mit Thrill aus der Tiefe des Raumes

FRANKFURT - Günter Netzer, die "personifizierte Nummer 10", feiert am Montag seinen 65. Geburtstag.
"Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte 'thrill'. 'Thrill, das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, 'thrill, das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. 'Thrill' ist Wembley." Mit diesem literarischen Text begeisterte sich der damalige England-Korrespondent und spätere Feuilletonchef der FAZ, Karl Heinz Bohrer, am 3:1-Sieg gegen England, dem ersten deutschen im Mutterland des Fußballs. Und an Günter Netzer. Fachleute und Historiker des Fußballs halten dieses Spiel am 29. April 1972 im Viertelfinale der Europameisterschaft als das glanzvollste einer deutschen Nationalmannschaft. Wie in Trance murmelte Netzer, der mit seinen Fünfzig-Meter-Spurts die Engländer völlig aus der Fassung gebracht hatte, nach seiner Galavorstellung: "Unfassbar".
Am Montag feiert Günter Netzer, die personifizierte 10 als Spielmacher, seinen 65.Geburtstag. Er erinnert sich an seinen legendärsten Auftritt seiner ruhmreichen Karriere: "Was die Schönheit anbetrifft, war unser Fußball einzigartig. Wir hatten Figuren und Persönlichkeiten, wie sie in der heutigen Zeit nicht vorhanden sind. Das ist unstrittig." Die Namen: Franz Beckenbauer, Netzer, Gerd Müller, Sepp Maier, die intelligenten Jungspunde Paul Breitner und Uli Hoeneß.
Gegen alle Erwartungen und Voraussetzungen sei das harmonische Zusammenspiel, "eine Einheit, eine Gemeinschaft, eine Spielkunst auf dem Platz entstanden, die anderthalb Jahre angehalten haben, in einer nie da gewesenen und auch bis heute nicht wieder erreichten Form. Das stimmt", legt sich Netzer 37 Jahre danach fest. Die genialen Protagonisten aus München und Mönchengladbach, der Libero Beckenbauer und der Stratege Netzer, hatten ohne vorherige Absprache in einem blinden Verständnis zueinander gefunden, zu einem ebenso ästhetischen wie effektiven Wechselspiel. "Das haben wir uns nicht ausgedacht. So etwas passiert einfach bei Instinkt-Fußballern auf dem Platz", sagt Netzer. "Instinkt und Intuition machen das Einmalige aus."
Die Spruch "aus der Tiefe des Raumes" ist in die deutsche Geschichte der Fußball-Weisheiten eingegangen wie Sepp Herbergers "der Ball ist rund". "Ich habe nie mit dem Bohrer darüber gesprochen. Aber ich habe ihn verstanden, was er gemeint hat. Ich habe mich über seine Beobachtungsgabe Freude, darüber, wie seine geschliffene Feder das ausgedrückt hat, wie ich gespielt habe." Welches Fußball-Genie hat schon das Glück, dass ein Feuilleton-Genie über sein Spiel schreibt?
Hartmut Scherzer