Interview

"Näherliegender Schlüsselspieler": Taktik-Experte erklärt, warum Wirtz wichtiger als Musiala ist

Taktik-Experte Thomas Broich erklärt in der AZ die iberische Spielidee des Bundestrainers, was der DFB von den deutschen Basketballern gelernt hat und warum Leon Goretzka nicht ins neue System passt
Krischan Kaufmann
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In der Offensive sind beide nicht zu stoppen. Trotzdem ist Florian Wirtz im DFB-System wertvoller als Jamal Musiala, sagt Taktik-Experte Thomas Broich.
In der Offensive sind beide nicht zu stoppen. Trotzdem ist Florian Wirtz im DFB-System wertvoller als Jamal Musiala, sagt Taktik-Experte Thomas Broich. © IMAGO/Beautiful Sports

AZ: Herr Broich, rekordverdächtige 15.000 Fans wollten gerade in Jena beim ersten Training der deutschen Nationalmannschaft dabei sein. Wie steht's denn um ihr ganz persönliches EM-Euphorie-Level?
THOMAS BROICH: Mega! Da gibt's gar kein anderes Wort. Wir haben jetzt wahrscheinlich für längere Zeit das letzte Mal so ein Turnier im eigenen Land. Das macht es ganz besonders. Für mich als Experte ist es ein Geschenk so nah dabei sein zu dürfen. Ein Kindheitstraum. Als Kids haben wir im Garten die Partien nachgespielt und kommentiert, und jetzt bin ich dabei. Das ist ganz besonders. Und ich finde auch das Momentum gerade ganz toll.

Wie meinen Sie das genau?
Durch die Bundesliga weht gerade ein ganz frischer Wind. Mit Leverkusen und Stuttgart haben wir zwei Mannschaften, die einen überaus modernen Fußball spielen. Und gleichzeitig mit dem FC Bayern und dem BVB haben wie unsere Bundesliga-Schwergewichte, die in der Champions League ganz vorne mit dabei waren und auch noch sind. Auch die beiden Länderspiele gegen Frankreich und Holland waren echt überzeugend. Wir müssen jetzt nicht wieder die totalen Ansprüche anmelden, aber das Gefühl ist aktuell schon echt sehr gut.

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Als Profi war Ihnen eine Turnier-Teilnahme nicht vergönnt, ist der Job bei der ARD nun ein wenig Kompensation dafür?
(lacht) Ich würde sagen: "Es ist für mich die beste Möglichkeit, ein derartiges Turnier miterleben zu dürfen. Als Spieler – da geht natürlich nichts drüber. Aber für mich ist meine Experten-Tätigkeit dennoch ein Privileg, so dabei zu sein. Gerade aus einer Spielerkarriere heraus, die nie dieses Niveau hatte, ich war weder Nationalspieler noch bei einem Top-Klub.

Thomas Broich: "Toll, dass wir uns von den deutschen Basketballern so inspirieren haben lassen"

Die Stimmung im Lande steigt gerade merklich und auch die Nationalspieler wirken sehr zuversichtlich. Wie viel Anteil daran hat Bundestrainer Julian Nagelsmann?
Einen großen Anteil. Weil er mutig und konsequent war bei der Nominierung des EM-Kaders. Ich fand zum Beispiel total toll, dass wir uns von den deutschen Basketballern so inspirieren haben lassen.

Inwiefern?
Es geht viel um die Rolle im DFB-Kader, dass diese Rolle klar definiert ist und sich die Spieler der zugewiesenen Rolle auch wiederfinden müssen. Das ist herrlich unarrogant, sich diese Vorgehensweise bei den Basketballern abzuschauen, bei denen dieses Rollenmodell ganz hervorragend funktioniert hat, die mit dem WM-Titel einen echten Coup gelandet haben. Davon kann der Fußball nur lernen. Es gab nach den vielen negativen Turniererfahrungen in den letzten Jahren eine Notwendigkeit, etwas radikal zu ändern. Und zwar die Nominierung basierend auf Form, Selbstvertrauen und Leistung jetzt und nicht Potenzial – und das dann kombiniert mit diesem Rollenverständnis. Das ist ein ganz neuer Ansatz. Außerdem finde ich die Kaderzusammenstellung in sich sehr schlüssig hinsichtlich der Spielidee.

Neue DFB-DNA im Spiel? "Wir haben einen iberischen Touch"

Welche Spielidee haben Sie bei Nagelsmann erkannt?
Wir haben einen iberischen Touch, der aber gar nicht so offensichtlich ist und auf keinen Fall mit diesem Tikitaka-Ballgeschiebe verwechselt werden darf. Es ist mehr dieses supermoderne Zocken auf ganz engen Räumen, also den Gegner locken und dann die Räume, die dahinter entstehen, überfallartig zu Ende zu spielen. Diese Idee wird enorm verkörpert von Leverkusen und Stuttgart, auch von Brighton mit Pascal Groß. Ilkay Gündogan ist in diesem Universum daheim wie kein Zweiter, Toni Kroos kennt das auch aus Spanien. Diese Stimmigkeit macht mir schon sehr viel Hoffnung für die EM.

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Wenn das Leistungsprinzip beim DFB gerade wieder der entscheidende Faktor ist, warum sind dann Mats Hummels und Leon Goretzka nicht dabei?
Bei Leon fand ich seine Nominierung nicht zwingend. Er hat sich immer wieder angeboten durch gute Leistung, aber es war schon bezeichnend, dass er beim Halbfinal-Rückspiel gegen Real Madrid bei Bayern nicht erste Wahl war. Zudem ist er nicht prädestiniert für dieses Spielsystem, das ich gerade skizziert habe. Bei Hummels vermute ich die Gründe eher bei Rolle und Mannschaftsgefüge.

"Völlig legitim diesmal andere Jungs in den Fokus zu rücken"

Julian Nagelsmann nimmt bei seiner Kaderplanung wenig Rücksicht auf große Namen oder die Bedürfnisse der großen Klubs. Wirkt der Bundestrainer auf Sie autonomer in seinen Entscheidungen als seine Vorgänger?
Ob die Entscheidungen alle richtig waren, werden wir erst im Nachhinein erfahren. Aber Julian Nagelsmann hat seine Entscheidungen jetzt aus innerer Überzeugung getroffen und oft ist es so, dass man damit viel besser leben kann. Wenn ich aus Überzeugung meinen Kader so nominiere, dann komme ich auch besser klar mit dem Scheitern. Wenn ich aus politischen Gründen einen Kader zusammenstelle, dann habe ich ein Problem mit mir selbst. So würde es zumindest mir gehen. Zumal die Bayern nur Dritter geworden sind und Borussia Dortmund nur Fünfter – es ist in meinen Augen völlig legitim diesmal andere Jungs in den Fokus zu rücken, die über eine ganze Saison konstant performt haben.

Julian Nagelsmann denkt – so hat er es auf der Nominierungs-PK jedenfalls erklärt – seine EM-Elf von Toni Rüdiger und Toni Kroos aus. Welche Spieler wären für Sie darüber hinaus noch Fixpunkte in der Nationalmannschaft?
Ich würde natürlich Manuel Neuer mit dazuzählen, auch Florian Wirtz. Ich glaube, dass der Junge je nach Fitness-Zustand eine ganz zentrale Rolle bei diesem Turnier einnehmen wird – vor allem, weil er so viel mehr ist als nur Künstler. Was Wirtz noch mehr zeigt als Jamal Musiala, ist diese läuferische Komponente. Der Bayern-Profi ist natürlich auch eine Überbegabung, besonders in die offensive Richtung. Wirtz ist vom Naturell aber der näherliegende Schlüsselspieler, weil er alle Spielphasen bedient. Aber das Schöne an dieser Offensive ist ja, du kannst sie dir total flexibel zusammenpuzzeln, je nachdem ob du mehr einen klassischen Außenspieler brauchst oder eher einen Spieler in den Halbräumen: ein Leroy Sané und ein Chris Führich oder Wirtz und Musiala – da wird auch die Form eine ganz große Rolle spielen und wer wie ins Turnier reinkommt.

"Thomas Müller ist ja der One-Touch-Fußballer par excellence"

Wo sehen Sie Thomas Müller in dieser Konstellation?
Nicht mehr zwangsläufig von Anfang an, aber er ist natürlich immer ein Kandidat für die Startelf. Weil er offensiv bei all den Dribblern ein schönes Gegengewicht mit reinbringt. Thomas Müller ist ja der One-Touch-Fußballer par excellence, es gibt niemanden, der Mitspieler mit nur einem Kontakt so wunderbar in Szene setzt. Und es gibt immer wieder Momente, wo man genau diese Qualität braucht. Und was er auch schon zigfach unter Beweis gestellt hat, ist diese organisatorische Komponente. Wenn es im Pressing einen Dirigenten braucht, dann ist man froh, einen Thomas Müller zu haben. Thomas kann immer noch sehr, sehr wertvolle Dienste leisten, obwohl er jetzt vielleicht nicht mehr der unangefochtene Stammspieler ist.

Wo würden Sie diesen DFB-Kader mit Blick auf die anderen EM-Teilnehmer wie zum Beispiel Topfavorit Frankreich einordnen?
Die Franzosen wirken wie eine pragmatische Gruppe, die wahrscheinlich das mit Abstand meiste Talent mitbringt, zu allem im Stande ist, aber jetzt nicht durch eine total überlegene Spielidee überzeugt. Wenn es aber um den Turniersieg geht, kann ich mir aber vorstellen, dass es eine Truppe ist, bei der die Mannschaftsleistung deutlich mehr ist als die Summe der Einzelteile, wie zuletzt bei Argentinien und Italien. Deshalb ist der deutsche Kader auch so schlau zusammengestellt, denn es wurden Profis eingeladen, die alle eine ähnliche Spielweise haben. Der Fußball muss nicht jetzt in einem Trainingslager erdacht und neu einstudiert werden, sondern der Bundestrainer baut auf dem auf, was die Spieler aus ihren Vereinen kennen. Die deutsche Nationalmannschaft war immer dann besonders erfolgreich, wenn die Vereinsarbeit in der Bundesliga herausragend war - so wie diesmal eben mit einem Leverkusener und Stuttgarter Fundament.

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