Mythos Barca

Bayerns ruhmreicher Gegner galt einst als Hort des katalanischen Widerstands gegen Diktator Franco – und ist seitdem „mehr als nur ein Klub“.
BARCELONA Es ist wie ein Ritual. Also schieben auch an diesem Abend Ramon, Jorge und Kike ihr Bier zur Seite, lehnen sich zurück und singen: „Barca, Barca, Barca.“ Der Refrain der Klub-Hymne schallt durch die Bar. Der Fernseher zeigt, wie elf Spieler in weinrot-blauen Trikots ins Stadion einziehen. Kameraschwenk: Ein verwegener Kerl mit zotteliger Mähne. Es ist Carles Puyol, der Kapitän des FC Barcelona. Ein waschechter Katalane. So wie Kike und Ramon auch. Jorge nicht ganz. Er stammt aus Bilbao. Aber egal. Denn er singt ja mit, hier in der engen Bar im Stadtteil Barceloneta, im Hafenviertel: „Barca, Barca, Barca.“ Dann bricht die Musik ab. Anpfiff.
Weil Ramon der Älteste ist, ist er der Chef der Penya Barceloneta. Penya, so heißen die Fanklubs. Einfach nur Barca nennen die Anhänger liebevoll ihren Klub. Und glaubt man den Fans, dann ist Barca viel mehr als nur jener Verein, der gegen den FC Bayern im Viertelfinale der Champions League antritt. Barca, das ist mehr als ein Klub, „mès que un club“. So lauten Motto und Mythos des Vereins aus Katalonien, so steht es in riesigen Lettern auf der Tribüne des legendären Stadions Camp Nou.
"Es ging damals ja nur um Knoblauch"
Und wer fragt, woher ausgerechnet Barca die Dreistigkeit nimmt, mehr sein zu wollen als eben nur ein Verbund von Fußballern, für den hat der 81 Jahre alte Ramon eine Geschichte parat. „Es ging damals ja nur um Knoblauch“, sagt er. Es waren die 60er Jahre und Barca-Fan zu sein war gefährlich. Auf dem Markt am Placa Catalunya fragte Ramon nach einer Zehe Knoblauch, in katalanischer Sprache. Die Guardia Civil, die gefürchteten Ordnungshüter des spanischen Diktators Franco, führten ihn zur Seite und verpassten ihm eine „deftige Tracht Prügel“.
Nicht nur ihm erging es so, auch vielen anderen Katalanen. Es war die Zeit, in der Franco versuchte, den Verein zu hispanisieren. Camp Nou war zu dieser Zeit ein Ort, an dem Katalanen ihre Identität ausleben konnten. „Nur im Stadion bei Barca konnten wir Katalanen sein“, sagt Ramon.
Auch heute knistert noch der Mut zur Rebellion auf den 98000 Rängen. Das Spektakel muss höchsten Ansprüchen genügen. Selbst mittelmäßige Vorstellungen werden oft mit Pfeifkonzerten quittiert. Auch das Winken mit weißen Taschentüchern, ein Stierkamp-Ritual, ist eine solche Geste des Spotts. Für den Schriftsteller Manuel Vázquez Montalban spielte im Camp Nou das „symbolische unbewaffnete Heer Kataloniens“ auf, dort werde „die Fahne einer Nation ohne Staat“ hochgehalten. So wurde Barca zum politischen Symbol, zu mehr als einem Klub.
Fortune und Offensive machten Cruyff zur Legende
Und heute? Ramon, Jorge und Kike überlegen. Im Fernsehen flimmert Halbzeit-Reklame. Jorge, der 50-jährige Hilfsarbeiter aus dem baskischen Bilbao, sagt: „Nichts gegen Ramon, aber das ist doch schon so lange her. Heute ist nur noch Real der Erzfeind. Verliert Real, geht es mir gut, das ist die einzige Politik die mich interessiert.“
Historisch galt Real schon immer als bevorzugter Klub der zentralistischen Machthaber aus der Hauptstadt. Auch Jorge ist sich sicher: „Die Schiris pfeifen bis heute für Real.“ Zwar hat der Klub aus der Hauptstadt mit 77 offiziell anerkannten Titeln eine Trophäe mehr gewonnen als Barca, doch die Barca-Anhänger glauben bis heute, das habe mit Schiebung zu tun. Die Katalanen verweisen auf ihr im Vergleich prominenter besetztes Mitgliederverzeichnis. Sogar Papst Johannes PaulII. († 2006) zählte dazu.
Auch gilt ein legendäres 5:0 im Derby gegen Real als Beginn der Befreiung vom Franquismus. Der Niederländer Johan Cruyff führte nach dem Sieg gegen Madrid Barca 1973/74 zum Meistertitel. Nach 14-jähriger Durststrecke. Viele Ausländer versuchten sich in Barcelona. Unter ihnen die Deutschen Hennes Weisweiler und Udo Lattek als Trainer sowie in den 80er Jahren der als „blonder Engel“ gefeierte Spieler Bernd Schuster. Doch weder Legenden wie Luis Suárez in den 50ern, noch Diego Maradona in den 80ern konnten die Katalanen so begeistern wie Cruyff, der sogar seinem Sohn den katalanischen Vornamen Jordi gab. Unter ihm als Trainer gewann man in den 90er Jahren vier Meisterschaften in Serie und 1992 den Europapokal der Landesmeister. Fortune und Offensive machten Kettenraucher Cruyff zur Legende.
Als besonderer Ritterschlag für den aktuellen Trainer Josep Guardiola galt deshalb der Vergleich von Barcas Präsident Joan Laporta. Der meinte, die Mannschaft um die heutigen Superstars Messi, Xavi und Eto'o erinnere ihn an das „Dreamteam“ der Ära Cruyff.
Jorge jedoch sagt einfach: „Natürlich ist Barca viel mehr als jeder andere Klub, aber manchmal genügt es, wenn sie schön spielen.“ So wie heute. Abpfiff. Jubel-Bilder. Die Hymne erschallt. Es darf wieder gesungen werden: „Barca, Barca, Barca.“
Reinhard Keck