Mustafi: Dritte Wahl, erster Treffer

Wer so einen Ersatz-Ersatzmann hat, kann sich glücklich schätzen. Mustafi überzeugt bei der Beförderung in die EM-Startelf und feiert sogar sein Tordebüt. Jetzt ist Fingerspitzengefühl von Löw gefragt.
Lille - Shkodran Mustafi legte die ganze Wucht seiner 82 Kilogramm Körpergewicht in diesen Kopfball. Und als dieser Sekundenbruchteile später im Tornetz einschlug, war der Mann, der für Bundestrainer Joachim Löw nur dritte Wahl war, plötzlich der erste deutsche EM-Held.
Auf den Innenverteidiger vom FC Valencia als ersten Torschützen der DFB-Elf bei der EM in Frankreich hatten die Wenigsten gewettet. Kein Wunder: Der krachende Kopfballtreffer (19.), bei dem der ukrainische Torhüter Andrej Pjatow keine Abwehrchance hatte, war Mustafis erstes Tor im elften Länderspiel.
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Dass der Weltmeister überhaupt die Chance dazu bekam, lag am Verletzungspech der deutschen Mannschaft. Mats Hummels, etatmäßiger Nebenmann von Abwehrchef Jerome Boateng, saß nach seiner Wadenverletzung draußen. Dessen Ersatz Antonio Rüdiger musste, kaum war er mit seinen Kollegen ins EM-Quartier nach Evian gereist, wegen eines Kreuzbandrisses für das Turnier passen.
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Doch Bundestrainer Joachim Löw vertraute gegen die Ukraine in Lille nicht dem nachnominierten Jonathan Tah, er ließ Mustafi ran.
Mustafi? So manchem Anhänger der deutschen Auswahl war dabei nicht wohl. Und diejenigen, die sich an Mustafis teilweise wilden Auftritte bei der WM 2014 erinnerten, behielten ja auch recht: Mustafi schwamm in der ersten Hälfte wie seine Nebenleute mehrfach, den Spielaufbau überließ er meist Boateng, und auch kurz vor Schluss patzte er noch einmal, als seine Kopfballrückgabe fast im eigenen Tor gelandet wäre.
His head still hurts! Congratulations @MustafiOfficial for your first goal for Germany ?#DieMannschaft pic.twitter.com/B9T9CJOBAV
— Marc ter Stegen (@mterstegen1) 13. Juni 2016
Aber er traf halt auch vorne. Wie bei seinem Führungstreffer nach einem Freistoß von Toni Kroos suchten die deutschen Standardschützen immer wieder den 1,84 m großen Abwehrspieler, der stets nett und bescheiden wirkt.
Als Fußballer lebe er in einer "Traumwelt", sagte er kurz vor der EM. Er habe aber nicht vergessen, wo er herkomme. Der Sohn albanischer Eltern wuchs im hessischen Bebra auf, schon mit 14 verließ er sein Zuhause, mit 17 ging er ins Ausland - stets das Ziel vor Augen, Profi zu werden.
Muskelbündelriss bei WM 2014
Der deutschen Öffentlichkeit blieb sein Werdegang weitgehend verborgen, bis Löw ihn 2014 völlig überraschend in den WM-Kader nahm. Kurz vor der Endrunde feierte er in Hamburg gegen Polen (0:0) sein Debüt. In Brasilien wurde er in der Vorrunde gegen Portugal (4:0) und Ghana (2:2) eingewechselt.
Beim äußerst mühsamen 2:1 n.V. im Achtelfinale gegen Algerien durfte er plötzlich von Beginn an ran, spielte hinten rechts schwach - und zog sich einen Muskelbündelriss zu. Löw war gezwungen, umzustellen - und zog Kapitän Philipp Lahm auf die verwaiste Position des Rechtsverteidigers zurück.
Für viele Experten war das einer der Schlüssel zum späteren Triumph von Rio. Mustafi erlebte ihn als Zuschauer mit, nach dem Finalsieg tanzte er trotz schwerer Verletzung auf dem Rasen Samba. Am Sonntag verzichtete er auf eine weitere Tanzeinlage - vielleicht war er selbst zu überrascht über sein erstes Tor.