Messi-Biograf Guillem Balagué: "Nimmt man Messi den Fußball, was bleibt dann noch?"

München - AZ-Interview mit Guillem Balagué: Der 54-jährige Katalane hat Bücher über zahlreiche Fußball-Größen geschrieben. Nun erscheint sein Buch "Messi" auf Deutsch.
AZ: Herr Balagué, ist Ihnen in Katar schon Saúl "Canelo" Álvarez über den Weg gelaufen?
GUILLEM BALAGUE: (lacht) Nein, dem müsste man auch besser aus dem Weg gehen... Im Ernst: Was für eine absurde Debatte da entstanden ist...
...Lionel Messi soll nach dem Sieg über Mexiko auf das getauschte mexikanische Trikot getreten sein, weswegen Box-Champion Canelo Messi eine Tracht Prügel androhte.
Die WM läuft. Das Trikot ist natürlich ein wichtiges Zeichen, wie die Fahnen. Aber das... Das Gehirn des Menschen hört mit zwölf Jahren zu wachsen auf, wir sind Kinder – daher kommen diese Dummheiten.

Balagué sprach für Biografie viel mit Messi-Umfeld
Sie haben ein Buch über Messi geschrieben. Wie schwer war es, sich einem anzunähern, der sich nach außen nicht öffnet wie etwa Cristiano Ronaldo?
Es stimmt, Messi ist noch nicht so weit, zu reden – er spielt noch. Ich habe mit vielen Leuten aus seinem Umfeld gesprochen und darum geht es: dass man ihn in seinen Zusammenhängen erklärt. Einfaches Beispiel: Vor Leos Geburt wollte seine Familie nach Australien ziehen. Dann hätte es nicht diesen Leo Messi gegeben. Ich wollte erklären, was in Argentinien los ist, dass dort Diego Maradona, Alfredo Di Stéfano und Messi herauskamen. Und was in Argentinien zu Beginn des Jahrtausends los war, so dass sich die Familie Messi entschied, das zu tun, was ein zwölfjähriger Bursche wollte. Das ist schon starker Tobak, wenn man es bedenkt. Das Buch zeichnet auch die Psyche eines Athleten, der mich fasziniert. Und es geht auch um die Frage: Würden Sie – ich habe keine Kinder – wollen, dass Ihr Kind Messi ist? Ich habe meine Zweifel. Es ist absolut nicht einfach, Messi zu sein.
Gleichzeitig ist der Transfermarkt im Fußball für minderjährige Talente gewachsen. Gibt es da einen Zusammenhang, dass die Klubs gesehen haben: Bei Messi hat das für den FC Barcelona funktioniert, probieren wir es auch?
Es ist richtig, dass es zu Messis Ankunft unüblich war, zwölfjährige Argentinier im Kader zu haben. Bei Barça waren das Spieler aus der Stadt und der Umgebung. Aber ich denke nicht, dass dies wegen Messi Schule gemacht hat – denn vor Leos Debüt im Alter von 17 Jahren waren auch schon junge Afrikaner in französische oder Brasilianer in portugiesische Nachwuchsteams gekommen. Es geht mehr um Dynamiken des Marktes und die Frage, wie man sich Vorteile und Gelder erhaschen kann. Was nun anders ist, dass sich die Klubs um die Talente kümmern. Leo kam und sie hatten ihn quasi schon wieder vergessen. Sie verschafften ihm auf dem steinigen Weg keinerlei Erleichterung, auch nicht bei den Hormonspritzen, die er brauchte. Barça hat das inzwischen komplett geändert und ein eigenes Programm eingerichtet.
Piqué räumte Messi-Zimmer im Trainingslager komplett aus
Sie haben recherchiert, wie Messi, der Zwerg mit dem komischen Dialekt, keine Bindung ans Team fand und ihn Gerard Piqué, später ebenso ein Star, einen Streich spielte, der alles ändert.
Messi sprach am Anfang kaum, zog sich außerhalb der Kabine um. Wenn ein neues Kind dazustieß, gab es Mobbing. Auch von Cesc Fabregas und anderen, aber vor allem von Piqué. Zum Beispiel, als er Messi im Trainingslager das komplette Zimmer ausräumte, die Playstation inklusive. Messi brodelte, tratzte zurück und wuchs ins Team hinein. Anfangs gab es manch solche Episode. Das Verhalten verkehrte sich später ins Gegenteil, als sie merkten, welch Gewinn er für Barça war.
Ein zentraler Satz über Messi ist ein Zitat der Journalistin Cristiana Cubero: Messi schrumpft außerhalb des Platzes, aber auf dem Platz zeigt er Kraft und Dynamik. Wie erklären Sie dieses Phänomen?
Ja, das ist ein Faszinosum. Da ist eine Linie, die es nicht gibt. Auf dem Platz will er die Spiele der Kindheit, mit den Freunden auf dem Bolzplatz, reproduzieren. Das ist die essenzielle Idee. Fern des Platzes hat er keinerlei Interesse, seine Meinung zu äußern, zu keinem Thema. Wenn er unsichtbar sein könnte, wäre er unsichtbar. Das hat sich über die Jahre etwas geändert. Er ist in der Öffentlichkeit nun Messi, der Familienvater – aber Messi, der Fußballer, will er da nicht sein. Aber selbst das ist vertrackt. Nimmt man Messi den Fußball weg – was bleibt? Er hat nichts gelernt, er liest nicht. Und, das ist auch Pep Guardiola passiert: Die Unsicherheit, die den Fußballer ohne Fußball erfasst, lässt ihn zum Fußball zurückkehren. Er will Sicherheiten, Kontrolle. Ohne den Fußball geht es ihm schlecht. Pep hatte einen Minderwertigkeitskomplex. Er kompensierte ihn, indem er sich mit Politikern, Dichtern und Schriftstellern umgab. Messi hat das nie und ich denke gerade zum ersten Mal darüber nach: Fußball ist für ihn alles.
Nach Karriereende – Messi will Junior-Mannschaft trainieren
Ziemlich traurig. An einem Tag in nicht allzuferner Zukunft wird seine Karriere zu Ende gehen. Welche Pläne hat er?
Sein erster Plan war, eine Kindermannschaft zu trainieren. Nun nicht mehr, aber er wird aus den erwähnten Gründen im Fußball bleiben. Er hat einen Blick für Talente, sportlicher Leiter könnte nach einer Erholungspause seine Richtung sein. Theaterdirektor oder Autor? Kaum vorstellbar. Aber nun: Michael Jordan nimmt nun mehr Geld ein als während seiner Laufbahn. Daran müsste sich Messi orientieren.
Wird er, wie es heißt, nach Miami in die MLS wechseln?
Ihn interessiert dieser Schritt, aber eher nicht in diesem Sommer. Er hat derzeit bei PSG einen Zweijahresvertrag mit einer Option auf ein weiteres Jahr. In den Monaten nach der WM werden sie ihm einen Vertrag über ein festes Jahr mit einer Option auf ein weiteres anbieten, denke ich. Ich sehe ihn weiter bei PSG. Dort kann er um den Champions-League-Titel mitspielen, hat Leute wie Mbappé und Neymar. Barça hat kein wirkliches Angebot abgegeben, keine Pläne, nur Worte.
"Cristiano Ronaldo hascht nach Aufmerksamkeit"
Ronaldo kehrte zu Manchester United zurück – was völlig schiefgegangen ist. Hat Messi so etwas im Blick, wie er es nicht machen sollte?
2015 habe ich ein Buch über Ronaldo geschrieben und gesagt: Sobald seine Laufmaschine aufhört, wird er sich schwertun. Darauf hat er sich bis heute nicht vorbereitet, er hat seine Grenzen nicht erkannt. In vielem, was er tut, sucht er die Bewunderung der Leute. Seine Karriere begann damit, dass er fern seiner Eltern allein in Lissabon lebte. Er sucht Zuneigung und jetzt, da sie erlischt, hascht er nach Aufmerksamkeit, die ihn nährt. Cristiano musste nun lernen, dass United – und meiner Meinung nach auch Portugal – besser ohne ihn ist. Bei Messi ist alles anders. Er ist Kapitän, Anführer, das Zentrum einer Eruption – er ist unersetzlich.
Sie haben auch über weitere Größen wie Maradona geschrieben. Was haben diese Leute gemeinsam? Gibt es eine Sieger-DNA?
Sie haben viel gemeinsam, viel mehr, als sie trennt. Was alle in sich tragen: mehr und mehr zu wollen. Sie begeben sich aus der Komfortzone heraus, was ihnen verhilft, ihr Potenzial zu maximieren. Das sind alles Verrückte. (lacht)
Balagué von Maradona beeindruckt – aber Messi ist besserer Fußballer
Wie sehr hat das Drama um Maradona Messi beeinflusst?
Er hat immer verstanden, dass er nie Maradona sein wollte. Jeder will, dass er das ist. Maradona ist eine Figur der Wünsche – aber nicht für Messi. Das führte dazu, dass er sich mehr in seiner Welt verschloss. Maradona hat, solange es ging, gespielt und wollte jeden Tag das Tor gegen England neuerlich erzielen. Als er dann merkte, dass Leo seinen Platz einnehmen könnte, hat er sich böse gegeben. Er war eifersüchtig, hat ihn kritisiert. Das war schmerzhaft und hässlich.

Wer ist aus der Sicht des Biografen der Allzeitgrößte?
Nun, Maradona ist sehr faszinierend. Was für eine Persönlichkeit! Er war der erste mit eigenem Athletiktrainer, mit eigenem Presseattaché. Der Erste, der die Uefa und Fifa korrupt nannte, der Erste, der den Künstler auf dem Feld schützen wollte. Die beste Leistung eines Spielers bei einer WM hat er vollbracht, 1986 bei Argentinien gegen Belgien. Es gibt auch die hässliche Seite: Drogen, Geistesverlust. Der größte Fußballer ist aber für mich Leo. Er spielt seit 17 Jahren auf höchstem Niveau, traf 25 Mal in 32 Finals. Unvergleichlich!
Kann Argentinien nun Weltmeister werden?
Nach dem, was ich bisher sah, sehe ich das nicht. Sie spielen nur ein wenig für Messi. Damit das gelingt, muss man die Fähigkeiten haben zu verstehen, wie ein Maler wie Picasso seine Gemälde malt, was es braucht. Bei Argentinien wirkt das, als wäre ein Malerei-Schüler am Werk, der noch nicht versteht, die Farben richtig zu mischen.

Die autorisierte Biografie "Messi" von Guillem Balagués ist kürzlich im Edel-Verlag auf Deutsch erschienen (656 Seiten, 24,95 Euro).