Matthäus über sein WM-Traumtor: Nahe der Perfektion

Vor 30 Jahren machte Lothar Matthäus sein wohl bestes Länderspiel. Im Interview mit der AZ erinnert er sich.
von  Patrick Strasser
Ex-Kapitän des FC Bayern: Lothar Matthäus
Ex-Kapitän des FC Bayern: Lothar Matthäus © imago images / Kirchner-Media

München - AZ-Interview mit Lothar Matthäus. Der 59-Jährige ist mit 150 Länderspielen deutscher Rekord-Nationalspieler, 1990 gewann er mit der DFB-Elf die WM. Im Spiel gegen Jugoslawien traf der damalige Inter-Profi doppelt.

Herr Matthäus, das 4:1 der deutschen Nationalelf gegen Jugoslawien, die Auftaktpartie des DFB in der Gruppenphase der WM 1990 in Italien, war IHR Spiel. Länderspiel Nummer 75 – und, man höre und staune, Ihr einziger Einsatz im Nationaltrikot, in dem Sie zwei Tore erzielen konnten.
LOTHAR MATTHÄUS: Ja, das stimmt. Von daher ist es ein ganz besonderes Spiel.

10. Juni 1990: "Ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer"

Viele Experten behaupten, das Match am 10. Juni 1990 sei auch das beste aller 150 Länderspiele Ihrer Karriere gewesen.
Ich will mich nicht selbst loben, aber dagegen kann ich nichts einwenden. Bei der Beurteilung der Leistung geht es ja auch um die Wichtigkeit des Spiels. Und diese Partie hatte es in sich – aus mehreren Gründen.

Lassen Sie uns auf Zeitreise gehen in den Mailänder Stadtteil San Siro, ins für "Italia Novanta" frisch renovierte Giuseppe-Meazza-Stadion.
Da haben wir schon einen der Gründe. Im San Siro zu spielen war für mich als Profi von Inter Mailand ein Heimspiel, gefühlt als wären wir zu Hause. Das hat mich und meine Inter-Teamkollegen Andy Brehme und Jürgen Klinsmann enorm beflügelt. Eine tolle Atmosphäre, ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer.

1990: Starker Gegner Jugoslawien

Sie hatten damals zwei Spielzeiten in der Serie A hinter sich, waren gemeinsam mit Brehme 1988 vom FC Bayern München nach Mailand gewechselt. Klinsmann kam ein Jahr später.
Außerdem waren da ja noch unsere "Römer", mit Rudi Völler und Thomas Berthold, die bei der AS Rom unter Vertrag standen. Unsere Nationalelf hat enorm von den Erfahrungen der Legionäre in der Serie A profitiert. Wir sind durch eine harte Schule gegangen, schließlich gab es nur drei Ausländerplätze. Aber wir haben uns dort durchgesetzt, das hat uns geprägt.

Die Mischung in der Mannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer stimmte.
Genau. Dazu kommt: Wir hatten ein Gerüst mit viel Erfahrung, einige Spieler kannten sich aus den Junioren-Nationalmannschaften schon lange. Dort habe ich bereits mit Andy, Rudi, Litti (Pierre Littbarski, d.Red.) und Guido Buchwald zusammengespielt.

Die Jugoslawen von Trainer Ivica Osim galten in der Gruppe mit Kolumbien und dem Außenseiter, den Vereinigten Arabischen Emiraten, als schwierigster Gegner. Manche Zeitgenossen unkten, es wäre eine leichte Gruppe, selbst mit Jugoslawien.
Die Leute, die vom Fußball Ahnung haben, wussten und wissen heute noch, welch starke Auswahl die Jugoslawen Anfang der 90er Jahre hatten. Mit Dragan Stojkovic und Srecko Katanec im Mittelfeld, mit Dejan Savicevic und Zlatko Vujovic im Angriff – um nur einige zu nennen.

1990 nahm Jugoslawien zum letzten Mal mit Spielern aus allen Teilrepubliken teil. Danach kam der Bürgerkrieg.
Sie hatten die besten Spieler aus Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Slowenien in einem Team vereint, das war eine tolle Truppe. Im Verlauf des Turniers sind die Jugoslawen bis ins Viertelfinale gekommen, scheiterten dort lediglich im Elfmeterschießen an unserem späteren Finalgegner Argentinien, das sagt doch schon alles. Für manche Experten galt Jugoslawien als Geheimfavorit, es war ein harter Brocken zum Auftakt. Einerseits schwierig, andererseits gibt es dann keine Alibis und kannst gleich auf hohem Niveau gegen einen Top-Gegner ins Turnier finden.

"Franz hat uns perfekt auf die jeweiligen Gegner vorbereitet"

Was mit dem 4:1-Erfolg eindrucksvoll gelungen ist. Ein Schlüsselspiel auf dem Weg ins Finale von Rom?
Absolut wegweisend für uns, die Grundlage für den Titel. Außerdem sendeten wir ein Signal an die Konkurrenz: seht her, die deutsche Mannschaft ist bei diesem Turnier richtig stark. Wichtig war auch die interne Wirkung.

Inwiefern?
Durch das eindrucksvolle 4:1 kamen keine Giftpfeile von den Medien, du hattest deinen Frieden. Wir Stammspieler konnten Selbstvertrauen tanken, innerhalb des Kaders wurde die Hierarchie gestärkt. Wir hatten von Anfang an Ruhe, weil die Reservisten nun wussten, dass sie es schwer haben würden, in die erste Mannschaft zu kommen. Also gab es, teils über die Medien gestreut, keine Störfeuer der Ersatzspieler wie bei der WM 1982 in Spanien oder insbesondere 1986 in Mexiko. In Italien waren wir eine Einheit, und zwar nicht nur von der Nummer eins bis elf, sondern von der eins bis zur Nummer 22. Der Zusammenhalt hat uns ausgezeichnet.

Perfekt geführt von Franz Beckenbauer, der die Mannschaft an der langen Leine ließ. Ins Teamhotel "Castello di Casiglio" in Erba durften die Frauen und Freundinnen der Spieler, einquartiert in einem benachbarten Hotel, fast jeden Tag zu Besuch kommen. Die Italien-Legionäre ließ Beckenbauer auch mal im eigenen Bett schlafen. Brehme und Sie konnten den Kollegen ihre Lieblingsrestaurants in Ihrem Wohnort Carimate zeigen und dort am freien Tag zum Stamm-Friseur gehen.
Franz hat das perfekt moderiert, hatte aus den Vorkommnissen bei der WM 1986 gelernt. Wir hatten ein Wohlfühl-Klima, haben aber auch hart gearbeitet. Denn Franz hat uns perfekt auf die jeweiligen Gegner vorbereitet und eingestellt. Er war ein Perfektionist – und doch recht häufig zufrieden mit uns.

"Mit Dynamik, Kraft und Wucht beim Torschuss"

Der Kaiser wurde allerdings auch zum Grantler, tobte und schimpfte nach dem schwachen 1:0 im Viertelfinale gegen die CSSR. Doch der Auftaktsieg dürfte selbst Beckenbauer milde gestimmt haben.
Das Spiel war ja auch nahe an der Perfektion. Franz hat uns immer eingetrichtert: Glaubt an Euch und Eure Stärken! Selbst nach dem 2:1-Anschlusstreffer durch Jozic wurden wir nicht nervös, haben klaren Kopf behalten.

Zehn Minuten nach dem 2:1 kam dann d e r Treffer, Ihr Solo aus der eigenen Hälfte, fulminant mit rechts ins lange Eck abgeschlossen – das 3:1 in der 65. Minute, die Vorentscheidung.
Ein Tor als Beleg wie ich Fußball gespielt habe. Tempo aufgenommen, mit dem Ball am Fuß durchs Mittelfeld. Mit Dynamik, Kraft und Wucht beim Torschuss. Eine schöne Erinnerung.

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