Martin Sonneborn im EM-Gespräch: "Ich habe hohen Respekt vor jeder Art von Irrsinn"

München - EM-Gespräch mit Martin Sonneborn: Der 56-jährige Journalist und Satiriker sitzt als Bundesvorsitzender der Partei "Die Partei" im EU-Parlament. Bis 2005 war der gebürtige Göttinger Chefredakteur des deutschen Satire-Magazins "Titanic".
AZ: Herr Sonneborn, aktuell wird mal wieder viel über die Uefa geschimpft. Hätte der Verband für dieses länderübergreifende Turnier mit elf verschiedenen Spielorten aus Sicht eines Europapolitikers nicht auch ein wenig Lob aus Brüssel verdient? Immerhin steht der europäische Gedanke bei diesem Millionen-Event ja ganz klar im Vordergrund.
MARTIN SONNEBORN: Sie meinen den europäischen Gedanken steuerbefreiter Reichtumsmehrung bei dubiosen Großunternehmen? Genau wie Amazon, das allerdings 20 Mal so viel Umsatz macht, bezahlt auch die Uefa für ihre Milliardengewinne in der EU keine Steuern. Ja, das dürfte Frau von der Leyen eigentlich gefallen.
Und was hält der Fußball-Fan Martin Sonneborn von dieser paneuropäischen Idee?
Ich habe hohen Respekt vor jeder Art von Irrsinn. Und Spiele einer Europameisterschaft in Stadien einer korrupten, kaukasischen Öldiktatur in Baku austragen zu lassen, das hat schon eine gewisse Qualität.

Kniefall, Greenpeace, Kritik an Viktor Orbán, Wladimir Putin & Co. - bereits vor dem Finale lässt sich feststellen, dass selten eine Europameisterschaft politisch aufgeladener war als diese...
Mir gefallen EMs mit sportlichen Höhepunkten eigentlich besser. Obwohl die gespielte Empörung von CDU und AfD nach der misslungenen Greenpeace-Aktion auch unterhaltsam war. Den Aktivisten die Gemeinnützigkeit aberkennen? Dann aber bitte auch den Parteien, deren Bundestagsabgeordnete in sogenannten Nebentätigkeiten 35 Millionen Euro im Jahr erwirtschaften.
Warum ist es in Ihren Augen so falsch, dass die Uefa versucht, Politik und Fußball klar voneinander zu trennen?
Weil auch das eine politische Aussage ist. Oder zumindest in den sozialen Netzwerken als eine solche verstanden wird.
Nachdem die Beleuchtung der Münchner Arena - als ein Zeichen gegen die Diskriminierung der LGBTQ-Community- in Regenbogenfarben beim Spiel der DFB-Elf gegen Ungarn verboten wurde, wissen Sie überhaupt noch, wen dann die Uefa bei ihrer großen "Respect"-Kampagne eigentlich gemeint haben könnte?
Wenn ich mich recht erinnere, war es ein Ziel der Uefa, den Fußball inklusiver und barrierefreier zu machen. Zumindest vor dem deutschen Tor ist das gelungen.
Hätten Sie bei dem Thema seitens des DFB und der deutschen Politik mehr Rückgrat erwartet?
Nein. Ich kenne beide schon zu lange.
Was kann die Uefa von der EU lernen?
Besonders heftige Kritik entbrennt zudem am vermeintlichen Kuschelkurs der Uefa mit demokratiefernen Machthabern wie Viktor Orbán in Ungarn, dem Alijew-Clan in Aserbaidschan oder Wladimir Putins Russland. Allerdings pflegt auch die Europäische Union zum Teil sehr enge Beziehungen zu diesen Regimen. Was kann die Uefa hier von der EU lernen?
Nicht sehr viel, denke ich. Auch in der EU-Führung werden demokratische und humanistische Werte zwar lautstark propagiert, aber im Tagesgeschäft haben sie keinerlei Bedeutung, wenn es um Macht oder wirtschaftliche Interessen geht. Die Uefa könnte als 28. Staat in die EU eintreten, unter den korrupten Oligarchien im Osten würde sie nicht weiter auffallen.
Die WM 2022 wird in Katar stattfinden, die Olympischen Winterspiele im selben Jahr in China. Der Trend geht bei den großen Sportverbänden also offenbar immer mehr hin zu Autokratien, die es mit den Menschenrechten nicht allzu genau nehmen, dafür im Land selbst einen störungs- und protestfreien Ablauf garantieren. Aus Sicht von Fifa, Uefa oder auch dem IOC ist das letztlich eine nachvollziehbare Entwicklung, oder?
Yep. Zur Entschuldigung muss man allerdings sagen, dass es immer schwerer wird, Staaten zu finden, die keine Autokratien sind. Der Trend geht weltweit klar zum autoritären Regime. Selbst in der EU - schauen Sie sich Ungarn, Polen, Slowenien, Slowakei, Bulgarien und Spanien an.
England ist aktuell das Epizentrum der Delta-Variante, trotzdem sind im Londoner Wembley-Stadion beim Finale wahrscheinlich mehr als 45.000 Zuschauer erlaubt. Mal wieder einer der üblichen britischen Sonderwege oder die endgültige Kapitulation der Downing Street vor der Uefa?
Tatsächlich eine Kapitulation. Es gab ja auch Streit um die 2.500 Uefa-Spinner, die ohne Tests und Regeln nach England und wieder zurückreisen dürfen. Aber wenn Großbritannien sich weigert, geht das Finale nach Baku.
Wen Sie eine Kampagne entwerfen müssten, um das Image der Uefa aufzupolieren, wie könnte die aussehen?
Ich fürchte, eine nicht ernst gemeinte Entschuldigung auf Twitter würde in diesem Falle nicht ausreichen. Uefa-Präsident Aleksander Ceferin sollte vor dem Finale nackt und mit Regenbogenfarben bemalt einmal quer durchs Wembley-Stadion flitzen.