Mario Gomez: Vom "Chancentod" zum Hoffnungsträger

Paris - Wieder das dritte Gruppenspiel, wieder ging es ums Weiterkommen für die Nationalelf bei einer EM – für Mario Gomez aber um viel mehr. Bei seinem ersten Startelf-Einsatz in Frankreich wollte er endlich diese uralte Geschichte von Wien 2008 loswerden, als er in einer Szene der personifizierte Chancentod wurde.
Gestern Abend in Paris traf der 30-Jährige gegen Nordirland zum 1:0 (30.) und half, den Gruppensieg zu sichern. Mit seinem insgesamt vierten EM-Treffer (drei vor vier Jahren in Polen/Ukraine) hat sich Gomez auf Rang zwei der besten deutschen EM-Schützen geschossen – hinter Jürgen Klinsmann (fünf Tore).
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Nach dem Spiel sprach Gomez fast ausschließlich über seine Mannschaft, kaum in der Ich-Form. Er wollte nicht, dass der Erfolg nur ihm gut geschrieben wird. „Es war ein souveräner Sieg, die Chancenverwertung aber nicht so gut, wie auch schon in den ersten beiden Spielen“, sagte Gomez in der ARD, „sehr gut war, dass wir uns so viele Chancen herausgespielt haben. Die Tore haben wir uns aufgehoben für die K.o.-Phase.“ Sprach’s und lächelte.
Am Sonntag in Lille dürfte er wieder mitmischen von Beginn an. Im Strafraum, dort wo es weh tut. „Ich hab 15 oder 20 Minuten gebraucht, um reinzukommen, habe mich reingehauen gegen die Ochsen.“ Ein freundlich gemeinter Begriff für die stämmigen Verteidiger der Nordiren.
Selbst bei Heimländerspielen wurde er ausgepfiffen
Damals, vor acht Jahren in Wien, war Gomez zum Gespött der gesamten (Fußball-)Nation geworden, weil er einen Ball aus kürzester Distanz nicht im österreichischen Tor unterbrachte – was schwieriger, ja unmöglicher war als ihn reinzudrücken. Slapstick, Unglück, Stempel drauf: Der kann nix (mehr). Beim Rückblick auf Wien 2008 müsse er „selber drüber schmunzeln. Aber das hat mich auch ein Stück weit zu dem gemacht, was ich heute bin“, sagte Gomez kürzlich. Weil er durch das Tal der Pfiffe musste. Eine Runde Spott bei Länderspielen? Alle auf Gomez. Selbst bei Heimländerspielen wurde er in den Jahren danach ausgepfiffen und sogar verhöhnt. Kategorie falscher Film. Sein trauriges Fazit: „Das hat mich vielleicht ein oder zwei Jahre meiner Karriere in der Nationalmannschaft gekostet.“ Er kam damit nicht klar.
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Die WM 2014 verpasst er wegen Verletzung und chronischer Formschwäche, doch ein Jogi Löw ist treu. Zu dieser EM kam Gomez mit Selbstvertrauen. Als türkischer Meister mit Besiktas Istanbul und Torschützenkönig mit 26 Toren (in 33 Spielen).
Die Variante mit der "echten Neun"
Der Angreifer sollte gestern Räume schaffen, Platzmacher sein. „Gomez ist jemand, der mit seiner Präsenz Abwehrspieler binden kann, damit wir auf den anderen Positionen mehr Platz haben“, erklärte Oliver Bierhoff, einst selbst Mittelstürmer von ähnlicher Statur und spieltechnischem Level. Das 1:0 nach Ablage von Thomas Müller war eine Befreiung für Gomez und Erleichterung für Löw, der die Variante mit der „Echten Neun“ ersonnen hatte. „Bei Mario war die Qualität des Toreschießens immer da, er hat enorm an seiner Fitness gearbeitet“, sagte ARD-Experte Mehmet Scholl. In der 41. Minute vergab Gomez eine Chance, als wäre er plötzlich der Gomez von 2008 – und monierte einen Platzfehler. War aber ein Gomez-Fehler. Nach 82 Minuten köpfte der Gomez von 2016 beinahe das 2:0.
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Vom „Chancentod“ zum Hoffnungsträger für die Nationalmannschaft – was für eine Story. „Er hat das entscheidende Tor gemacht, das war wichtig für ihn. Er hat ständig zwei Gegenspieler gebunden, weil er gerne im Zentrum bleibt“, sagte Löw nach dem Spiel. Nach dem 0:0 gegen die Polen, als dem DFB-Angriff mit Mario Götze als „Falscher Neun“ in vorderster Front jegliche Durchschlagskraft und Torgefahr fehlte, forderten Fans und Experten Gomez. Für ihn nach all dem, was passiert ist, ein richtig guter Film. Mit Tendenz zum Happy End.