Lutz Pfannenstiel im WM-Gespräch: England hat die Herzen erobert

München - Lutz Pfannenstiel ist der einzige Fußballer der Welt, der auf allen fünf Kontinenten tätig war. Der 45-jährige Ex-Torhüter spielte jahrelang auch in England. Aktuell arbeitet er als TV-Experte und als Chefscout bei der TSG 1899 Hoffenheim.
AZ: Herr Pfannenstiel, Sie haben in Ihrer Karriere in 13 Ländern gespielt, für 25 Vereine. Waren die englischen Fans die verrücktesten?
LUTZ PFANNENSTIEL: Sie waren die emotionalsten. Der Fußball ist so tief in der englischen Kultur verankert, das Scheitern der Nationalmannschaft hat die Fans über Jahre belastet. Umso größer ist jetzt die Euphorie, dass man so kurz vor dem großen Ziel steht. Was die englischen Fans den meisten anderen voraus haben, ist ihre Dankbarkeit und ihre Geduld. Da gibt es für ein gewonnenes Tackling Standing Ovations, Pfiffe hört man so gut wie nie, da muss eine Mannschaft schon extrem viel Dreck am Stecken haben. Die Engländer sind mit die besten, die ehrlichsten Fans.
Was wäre denn los in England bei einem WM-Triumph, dem ersten seit 1966?
Ich glaube, die ganze Insel würde durch die Decke gehen (lacht). Man hat 52 Jahre drauf gewartet. Wenn die Engländer es wirklich schaffen, gegen Kroatien zu gewinnen, können sie mit der Euphorie und dem Rückenwind aus der Heimat tatsächlich Weltmeister werden.
Ist England leichter Favorit in der Halbfinal-Partie gegen die Kroaten (20 Uhr, ZDF live)?
Die Chance aufs Endspiel ist auf jeden Fall gut. Die Formkurve der Engländer zeigt nach oben – bei den Kroaten ist es anders. Kroatien war in der Vorrunde überragend, aber in der K.o.-Runde musste man sich zweimal durch das Elfmeterschießen quälen. Englands Sieg im Achtelfinale gegen Kolumbien im Elfmeterschießen hat viel Kraft und Hoffnung gegeben.
Pfannenstiel: "Southgate ist der Vater des Erfolgs"
Wieso können die Engländer plötzlich Elfmeter schießen?
Trainer Gareth Southgate hat Elfmeter über längere Zeit trainieren lassen und dadurch das Risiko, zu verlieren, minimiert. Die Engländer galten ja wirklich als verhext vom Elfmeterpunkt.
Mit Jordan Pickford haben sie nun sogar einen Top-Torhüter.
Das ist einer der Schlüssel des derzeitigen Erfolges. Jordan Pickford war vor dem Turnier nicht die klare Nummer eins, auch Jack Butland wurden Chancen eingeräumt. Aber Southgate hat sich richtig entschieden, Pickford war in allen Partien stark. Das Turnier hat ihn persönlich in ganz andere Sphären gehoben. Die Engländer sind ja schon lange der Meinung, dass sie gute Torhüter haben. Ich habe selbst in England gespielt und muss sagen, dass der Mythos, dass alle englischen Torhüter blind sind, auch totaler Schwachsinn ist.
Bei großen Turnieren haben englische Torhüter oft gepatzt.
Stimmt. Und das war jahrelang in den Köpfen der Torhüter so drin, dass Fehler automatisch immer wieder passierten. Ich hoffe wirklich, dass Pickford in den verbleibenden Spielen gut hält. Denn genauso, wie die englische Presse ihn jetzt hochgejubelt hat, würde sie Pickford auch wieder killen, wenn er patzt.
Gibt es sonst noch Gründe für den englischen Aufstieg?
Aufgrund der super Ergebnisse im Jugendbereich konnte man mit dieser Entwicklung rechnen. Dass es so schnell geht, hat kaum einer für möglich gehalten. Trainer Southgate, den ich persönlich schon lange kenne, ist der Vater dieses Erfolgs. Er hat Mut gezeigt, große Namen wie Wayne Rooney oder Joe Hart aus dem Team rauszuhauen. Dafür brauchst du Eier. Er hat zudem auf Dreierkette umgestellt. Das ist für Engländer untypisch, die Viererkette gilt als heilig. Southgate hat sich was getraut – und wurde dafür belohnt. Inzwischen feiern ihn die Engländer, nachdem er lange Zeit nur als Übergangslösung gesehen wurde. Southgate ist klar im Kopf, sympathisch, er nimmt sich selbst nicht so wichtig und ist ein harter Arbeiter. Das mögen die Engländer.
Scheint so, als würde der Coach perfekt zu seinen Spielern passen.
Definitiv. Die englische Mannschaft tritt sehr sympathisch auf, anders als in der Vergangenheit, als oft von einer arroganten Startruppe die Rede war. England hat die Herzen erobert. Beispielhaft dafür ist Harry Maguire. Der stand vor ein paar Jahren noch in der Fankurve, er wurde am Anfang belächelt, weil er nicht aussieht wie ein typischer Fußballer. Aber bei der WM hat sich Maguire in die Fußballherzen aller Fans gespielt. Das Entscheidende ist, dass es keinen Superstar gibt, die Engländer sind ein echtes Team. Auch Harry Kane, der ohne Frage ein Weltklassespieler ist, verhält sich in der Gruppe wie ein ganz normaler Typ, außerhalb des Platzes fällt er kaum auf.
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