Löw in Bedrängnis: Sechs Tore befeuern Rückhol-Debatte

Wie soll es nach diesem Debakel weitergehen? Von Joachim Löw werden nach der historischen Länderspielpleite in Spanien schnelle Antworten erwartet. Der Bundestrainer setzt aber trotz lautstarker Kritik auf seinen bewährten Krisenmodus. Einem Thema kann er nicht entkommen.
Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
4  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Bleibt auch nach dem Debakel in Sevilla Bundestrainer: Joachim Löw (r).
Bleibt auch nach dem Debakel in Sevilla Bundestrainer: Joachim Löw (r). © Daniel Gonzales Acuna/dpa
Sevilla

Es wird einsam um Joachim Löw. Nach dem historischen 0:6-Debakel in Spanien machte sich der gedemütigte Bundestrainer mit seinen überforderten Nationalspielern noch vor dem Morgengrauen auf die Heimreise.

Der Sonderflieger nach Düsseldorf mit Zwischenstopp in München hatte Sevilla noch gar nicht verlassen, da prasselten auf Löw über alle Kanäle schon bohrende Fragen und klare Forderungen ein - die nach einem Rücktritt inklusive. In der Heimat erwarten den selbst noch nach Antworten suchenden DFB-Chefcoach nun beschwerliche Tage.

Wie weiter Richtung Fußball-Europameisterschaft? Wirklich weiter ohne Thomas Müller, Jérôme Boateng und Mats Hummels? Die vom DFB-Direktor Oliver Bierhoff schon vor der höchsten Niederlage seit 89 Jahren gesichtete dunkle Wolke über der Nationalmannschaft hat sich durch den desaströsen Auftritt in Andalusien in ein Orkantief verwandelt. Löw sprach aber nicht von Abschied oder Trennung. Die gravierenden Probleme nimmt der 60-Jährige mit in eine viermonatige Winterpause.

"Wir müssen das die nächsten Tage im Trainerstab aufarbeiten. Was sind jetzt die richtigen Schlüsse, die wir ziehen müssen? Was ist der richtige Weg? Wir haben gedacht, dass wir einen Schritt weiter sind nach den letzten Spielen und diesem Jahr, das insgesamt schwierig war", sagte Löw. Sein Krisenmanagement wird schon zur Routine. Wie nach der WM 2018 wird sich Löw als Fußball-Emerit zurückziehen. Fußball-Deutschland braucht mit ihm als Bundestrainer viel Geduld.

Dass Löw das Dauerthema um eine Rückkehr des von ihm aussortierten Weltmeister-Trios Müller (31), Hummels (31), Boateng (32) in seinen ersten Analysekatalog aufnimmt, ist zudem unwahrscheinlich. Seine Haltung hatte sich auch nach den sechs spanischen Nackenschlägen nicht verändert. "Zum richtigen Zeitpunkt" wolle er über die heiß diskutierte Frage befinden. Dass dieser für ihn trotz der zahlreichen Forderungen von Ex-Nationalspielern wie Lothar Matthäus über Jürgen Klinsmann bis hin zu Bastian Schweinsteiger und Didi Hamann immer noch nicht gekommen ist, machte der 60-Jährige schon deutlich.

"Das Vertrauen ist jetzt im Moment nicht völlig erschüttert. Diese junge Mannschaft hat auch die Fähigkeit, sich so zu entwickeln, dass wir eine leistungsstarke, konkurrenzfähige Mannschaft haben. Davon bin ich absolut überzeugt", lautete Löws nach dem fußballerischen Offenbarungseid erstaunliches Treuebekenntnis zur Umbruch-Elf.

Löw weiß, dass er eine Rückkehr der geschassten Alphatiere teamintern nicht moderieren kann. Wen sollte er aus seiner Startelf streichen? Niklas Süle? Leon Goretzka? Leroy Sané? Der Generationenkonflikt verhagelte schon die Stimmung vor zwei Jahren in Russland. Und für einen Bankplatz kämen die Oldies nicht zurück. Auch Rekord-Torwart Manuel Neuer verbat sich die Debatte. "Es ist der falsche Zeitpunkt, nach so einer Niederlage über Spieler zu sprechen, die nicht dabei sind." Sinnhaft zu kommunizieren und durchzuführen wäre eine Rückkehr nur von einem anderen Bundestrainer.

Die längst noch nicht verheilten Wunden des WM-Traumas von 2018 sind jedenfalls wieder aufgerissen. Statt den Gruppensieg in der Nations League als Symbol der Rückkehr zu höchster Wettbewerbsfähigkeit zu feiern, steht Löw nach dem Untergang in Andalusien vor den Trümmern seiner kritisch begleiteten Aufbauarbeit. Schonungslos zerstört vom alten Rivalen Spanien. Und das nur sieben Monate vor dem EM-Start. Und der erste Gegner am 15. Juni 2021 ist Weltmeister Frankreich.

Die Suche nach Hoffnungsträgern ist schwierig. Joshua Kimmich ist der allseits fallende Name. Der ehrgeizige Bayern-Antreiber soll dem Team nach seiner Verletzung Leben einhauchen. Doch reicht ein Kimmich für diese Aufgabe? Laut ist der Ruf nach Konsolidierung durch Erfahrung. Den Auftakt machte Schweinsteiger: "Ich weiß, dass solche Spieler wie Jérôme Boateng oder Thomas Müller das Triple gewonnen haben mit dem FC Bayern München. Sie sind die beste Mannschaft Europas. Die spielen in der ersten Elf, die haben Qualität. Das sind deutsche Spieler. Warum nicht für die Nationalmannschaft?", stellte der WM-Held von Rio noch im ARD-Studio eine rhetorische Frage.

Doch hätte das Ü30-Trio in Sevilla geholfen? Auch der in seinem Rekordspiel allein gelassene Neuer und der in entscheidenden Momenten unsichtbare Toni Kroos waren als noch aktive Ex-Weltmeister nicht in der Lage, das Desaster abzuwenden. Müller, Hummels und Boateng umgibt eine Märtyrer-Romantik. Bei der WM 2018 gehörten aber auch sie zu den Enttäuschungen. Vor zwei Jahren zeichneten sie beim 0:3 in Holland für die bis Dienstagabend höchste Löw-Niederlage mitverantwortlich.

Die anstehende lange Auszeit kann für Löw ein Vorteil sein. Schnell werden Bundesliga, Champions League und die Corona-Wirren wieder in den Mittelpunkt rücken. Löw kann sich als Fußball-Faktotum zurückziehen. Nicht einmal bei der digital abgehaltenen Auslosung der WM-Qualifikationsgruppen am 7. Dezember in Zürich muss er erscheinen.

In Sevilla stand ihm Bierhoff schnell verbal zur Seite. "Das Vertrauen ist da, daran ändert auch dieses Spiel nichts", versicherte der DFB-Direktor. Als Löws Vorgesetzter hatte er aber schon vor dem Spiel mit Interview-Aussagen eine Distanz zum Weggefährten aufgebaut.

Im DFB-Führungszirkel könnten Fragen gestellt werden, ob die Symbiose Löw-Bierhoff nach 16 gemeinsamen Verbandsjahren die nötige Reformkraft besitzt. Gerade wenn die Kritiker-Allianz aus Boulevard und Alt-Internationalen nicht verstummt. Bierhoff könnte Löw qua Amt entlassen, aber ein Machtwort von DFB-Präsident Fritz Keller sollte die Richtung vorgeben. Ralf Rangnick könnte schnell als verfügbarer wie kompetenter Kandidat in der Not gehandelt werden. "Ob ich mir Sorgen um meinen Job machen muss, müssen sie andere fragen", sagte Löw nach seinem 189. Länderspiel als Chefcoach etwas trotzig.

Schon zweimal sorgten heftige Niederlagen kurz vor Turnieren für Panikstimmung. 2004 folgte dem 1:5 in Rumänien das Vorrunden-Aus bei der EM und der Abschied von Teamchef Rudi Völler. 2006 legte Klinsmann mit seinem Assistenten Löw den Hebel nach einem 1:4 in Italien noch um. Das WM-Sommermärchen überstrahlte alles.

Die historischen Fakten der höchsten Niederlagen seiner Amtszeit werden Löw aber dauerhaft begleiten. Nie kassierte eine DFB-Elf in 112 Jahren eine höhere Pflichtspielniederlage. Nur 1909 beim 0:9 gegen England und beim 3:8 gegen Ungarn im WM-Gruppenspiel 1954 gab es mehr Gegentore. Sepp Herberger gelang damals zwei Wochen später der Titelcoup gegen den gleichen Gegner. Ob Löw dies in sieben Monaten gegen Spanien gelingen kann, scheint mehr als fraglich.

© dpa-infocom, dpa:201118-99-376191/2

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
4 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
  • König Jannick am 18.11.2020 17:46 Uhr / Bewertung:

    "Die anstehende lange Auszeit kann für Löw ein Vorteil sein. Schnell werden Bundesliga, Champions League und die Corona-Wirren wieder in den Mittelpunkt rücken."

    Stimmt. Aber wenn zB Müller weiter so herausragend spielt, schwankt immer auch die Frage mit: Warum spielt der eigentlich nicht in der NM?
    Und parallel sehen wir jemanden wie Reus, der in keinem wichtigen Spiel überzeugt, aber in der NM steht. Da passt doch was nicht.

  • Radio Pähl am 18.11.2020 22:34 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von König Jannick

    Vergleicht man Reus (der auch nicht gespielt hat) mit Müller:
    Reus hat eine sehr gute Technik, Fehler bei der Ballannahme passieren ihm selten.
    Müllers Technik ist immer noch katastrophal: auf engem Raum angespielt ist der Ball garantiert weg!
    Reus hat ein gutes Passspiel, da ihm der Ball gehorcht, kann er blitzschnell den Pass in Schnittstellen spielen. Fehlende Konzentration und Phlegma stehen ihm oft im Weg.
    Müllers kapitale Fehlpässe kann man in jedem Spiel ein dutzend Mal bewundern. Wenn er Zeit und Raum hat, spielt er oft präzise und intelligente Pässe und Flanken.
    Obwohl Reus genauso alt wie Müller ist und so oft verletzt war ist er immer noch sehr schnell!
    Müller läuft viel, aber nie schnell! "Antritt" ist das Fremdwort schlechthin im Spiel Müllers.
    Reus hat eine exzellente Schußtechnik: scharf, platziert und mit Schnitt!
    Müllers Streuung beim Torschuß ist legendär! Wer erinnert sich nicht an seine Tore beim Versuch den Ball zu stoppen oder die abgerutschten Flanken...

  • König Jannick am 19.11.2020 07:43 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Radio Pähl

    Gut, dass du es ansprichst: Wenn Reus sich in einem wichtigen Spiel mal nicht versteckt, ist er halt verletzt.
    Und magst du gerade im Hinblick auf angebliche "Streuung" etc mal deine Behauptungen mit Daten unterlegen? Wer hat wieviele Torvorlagen? Tore? Zu den 12 kapitalen Fehlpässen bei Müller in jedem Spiel lieferst du sicher auch noch einen Beleg nach, nehme ich an?

    Bundesliga.com zählt Müller im Vergleich zu Reus aktuell mit mehr Toren, mehr Torvorlagen, hat ihn schneller gemessen, hat ihn 20x öfter sprinten gesehen, und hat 3x soviele gewonnene Zweikämpfe und 9x so viele gewonnene Kopfballduelle gezählt. Bei gleichvielen Einsätzen.

    "auf engem Raum angespielt ist der Ball garantiert weg!"
    Gewagte Theorie bei einem Spieler, der unter Guardiola gesetzt war. Aber sicher lieferst du da auch da noch einen Beleg!

    Du scheinst da irgendwie nicht faktenbasiert zu argumentieren. Kann das sein? Irgendwie scheinen alle Daten deinen Behauptungen zu widersprechen... Komisch. Woran liegt das?

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.