Jogi Löw im Interview: „Schweinsteiger ist zum Weltstar gereift“
In der AZ erinnert sich der DFB-Coach an magische Momente und erklärt, warum ihn das „Gerede vom vierten Stern gestört“ hat. Er schwärmt schon von der nächsten Generation – und verrät, welchen Gipfel er in der Winterpause besteigen will.
AZ: Herr Löw, haben Sie neulich Barcelonas Zaubersieg gegen Real Madrid gesehen, das 5:0? Was sagen Sie als Fußballlehrer dazu?
JOACHIM LÖW: Das Spiel war nahe an der Perfektion, ein besseres habe ich den letzten Jahren kaum gesehen. Dass eine starke Mannschaft gegen ein anderes starkes Team, gegen Real Madrid, das selbst dominant auftritt, bei fast jeder Aktion eine Torchance herausspielt, ist perfekt. Besser geht es nicht.
Kann nur eine Vereinsmannschaft dieses Top-Niveau erreichen?
Bei der spanischen Nationalmannschaft gab es auch schon Spiele, was die Kombinationen betraf, die ihn ähnlicher Form abliefen. Das war bei der EM 2008 der Fall und auch bei der WM 2010 bis auf einige Spiele. Da viele Spieler aus Barcelona die spanische Nationalmannschaft prägen, kann auch sie auf diesem Niveau spielen. Die Mannschaft hat die gleiche Philosophie wie Barcelona, nicht die von Real Madrid.
Nach dieser Logik müssten Sie sich für Ihr Team die Blockbildung von Spielern aus ein, zwei Vereinen wünschen.
Blockbildung würde ich mir nicht unbedingt wünschen, weil es bei uns in Deutschland unterschiedliche Philosophien und Spielweisen gibt. Bei der WM war es gut, dass wir einige Bayern-Spieler mit Selbstvertrauen nach ihren glänzenden Leistungen im Verein dabei hatten. Das Niveau des FC Barcelona, der viel mehr Spiele bestreitet, zu erreichen, ist mit einer Nationalmannschaft nicht einfach.
Sie arbeiten bei der Analyse mit Statistiken. Ist der Fortschritt in Zahlen messbar?
Wir hatten von allen Nationen die wenigsten Foulspiele. Wir hatten zudem die meisten Ballgewinne im Zweikampfverhalten und kamen am schnellsten zum Abschluss. Die Ballkontaktzeiten waren auf dem höchsten Niveau. 2005 dauerte es von der Ballannahme bis zum Abspiel jedes unserer Spieler im Schnitt noch 2,8 Sekunden. 2008 bei der EM haben wir uns auf 1,8 Sekunden verbessert, und 2010 waren es 1,1 Sekunden. Gegen England und Argentinien sind wir auf Werte unter einer Sekunde gekommen, auf 0,9. Nur die Spanier waren im Schnitt besser. Auch in der Gesamtlaufleistung lagen wir mit Spanien und Uruguay in der Spitze.
Was war Ihr Spiel des Jahres?
Das Spiel gegen Argentinien war das Beste, weil wir eine Mannschaft mit vielen Weltklassespielern über 90 Minuten dominieren konnten. Argentinien, einen der Topfavoriten der WM, mit 4:0 zu deklassieren, war bestes Niveau.
Gibt es für Sie einen Nationalspieler des Jahres?
Einen Spieler hervorzuheben, würde den anderen nicht gerecht werden. Es wird von den Shootingstars Özil, Khedira, Müller, Neuer und Schweinsteiger, der in seiner Persönlichkeitsentwicklung zum Weltstar gereift ist, gesprochen. Lahm war vorher schon auf einem ganz hohen Niveau.
Gab es Dinge, mit denen Sie nicht zufrieden waren?
Gegen die Spanier haben wir in der Offensive nicht die Leistung wie vorher gezeigt. Das war sicher der Schlüssel für die Niederlage im Halbfinale.
Es ist bekannt, dass Sie die WM akribisch geplant haben. Was waren Ihre wichtigsten Schritte?
Mir persönlich ist etwa acht Wochen, bevor wir mit der Vorbereitung begonnen haben, bewusst geworden: Dieses Gerede in der Öffentlichkeit und im Umfeld vom Titel und vom vierten Stern hat mich gestört. Ich habe mir gesagt, ich fasse zusammen, was ich von der Mannschaft im fußballerischen Bereich erwarte. Ich vermittelte der Mannschaft, dass wir Spielfreude, Spielintelligenz und Spielkultur brauchen. Ein zweiter Punkt war, das Auftreten der Mannschaft neben dem Platz in Südafrika. Ich wollte, dass die Mannschaft Freude ausstrahlt, dass sie bei Teamgeist, Disziplin und respektvollen Umgang absolut auf höchstem Niveau agiert. Wir haben eine Pyramide aufgezeichnet mit den acht, neun wichtigen Kriterien wie Respekt, Leidenschaft, Teamgeist, Freude, Ehrgeiz. Das war mir wichtiger als das Gerede vom Titel, über den ich mit der Mannschaft nie gesprochen habe.
Sie haben nach der WM wieder jungen Spielern eine Chance gegeben. Wem trauen Sie am ehesten den Sprung in Ihre Mannschaft zu?
Ich sehe Hummels sehr selbstbewusst und sehr reif für sein junges Alter, auch in seiner Persönlichkeit, sich zu exponieren. Schürrle ist ein Spieler, der mit viel Tempo und viel Frechheit ausgestattet ist. Holtby ist technisch sehr gut und vom Typ her wie Özil. Überraschende, tödliche Pässe, ein Auge, wo der Ball hin muss – das zeichnet ihn aus. Vor allem aber Götze: Mit 18 Jahren hat er mit einer Selbstverständlichkeit bei uns trainiert, wie ich es bei einem Spieler, der neu zur Nationalmannschaft kommt, noch nie erlebt habe. Er ist eines der größten Talente der vergangenen Jahre und die Perspektive einer großen Zukunft.
Was unterscheidet junge Spieler dieser Generation von den vorherigen?
Wir haben keine unendliche Fülle von hochtalentierten Spielern, sondern lediglich einige mehr als vor fünf Jahren. Diese Spieler sind besser in der Spielintelligenz, in der Basisausbildung. Sie haben einen klaren Plan, was sie erreichen möchten und sind sehr selbstkritisch. Das war vor einigen Jahren nicht so. Auf der einen Seite ist es heute einfacher in die Nationalmannschaft zu kommen, weil die Qualität der jungen Leute zu erkennen ist. Andererseits ist es aber nicht einfach, noch junge Spielern wie Özil, Khedira, Müller, Badstuber, Lahm, Podolski und Schweinsteiger zu verdrängen. Das ist ein langer Weg.
War die Euphorie, die Ihr Team auslöste, ein Grund für Sie, Ihren Vertrag als Bundestrainer doch zu verlängern?
Sicher war das einer der Gründe. Wir haben während der WM die Bilder zu einem Motivationsvideo zusammen geschnitten, um den Spieler zu zeigen: „Schaut mal, was man durch ein Spiel auslösen kann.“ Allerdings hatte ich eine Art Tunnelblick und wollte mich nicht ablenken lassen. Wenn ich heute an einem einsamen Abend oder in den Jahresrückblicken die Bilder sehe, bekomme ich eine Gänsehaut. Wenn man sieht, wie Millionen auf den Straßen jubeln, durchlebt man diese WM noch einmal sehr intensiv.
Welche Gemeinsamkeiten bestehen zwischen Löw, der 1998 in Stuttgart als Trainer aufhörte, und dem Bundestrainer Löw von heute?
Unverändert ist meine Grundidee, attraktiven Fußball spielen zu lassen. Damals konnte ich schwierige Situationen weniger gut lösen, ich habe mehr Fehler gemacht. Auch der Umgang mit den Spielern und mein Weg, sie überzeugen zu wollen, waren anders. Mit dem Einstieg bei der Nationalmannschaft konnte ich mich aus dem Tagesgeschäft herausziehen und aus der Vogelperspektive auf den Fußball schauen. Ich kann mir durchaus vorstellen, wieder bei einem Verein zu arbeiten. Jetzt bin ich über sechs Jahre beim DFB. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem ich sagen könnte: „Okay, es ist gut für mich, wieder eine neueHerausforderung zu haben.“
Und wie werden Sie die Tage zwischen den Jahren erleben? Wird der Hobbybergsteiger Löw, der schon einmal auf dem Kilimandscharo war, seinen Plan umsetzen und in die Anden aufbrechen?
Die Anden sind ein Thema, wenn ich mehr Zeit habe. In der Winterpause gehe ich vielleicht auf den Feldberg im Schwarzwald, der ist fast 1500 Meter hoch und leicht zu bewältigen.
Interview: Gregor Derichs