Jogi Löw: Der Unvollendete
DANZIG Es hatte Joachim Löw richtig in den Sitz seiner Trainerbank gedrückt. Die Wucht des Ereignisses, die Kraft dessen, was sich vor seinen Augen abspielte, gepaart mit der Ohnmacht, den Dingen keine Wendung mehr geben zu können, hatte die Spannung aus seinem Körper weichen lassen. Schon während des Spiels, des EM-Halbfinals von Warschau gegen die Italiener. In der ersten Halbzeit erwischten ihn die Kameras Nägel kauend, die Anspannung kompensierend, an seinen Entscheidungen zweifelnd, verbunden mit der bangen Frage: was tun? Als die Minuten voranschritten und keinerlei Hoffnung sowie Energie im deutschen Spiel auszumachen war, hing Löw in den Seilen. Sein Bauchgefühl trog nicht. Er wusste längst: Da geht nichts mehr. 1:2 gegen Italien, wieder ein Mal kurz vor knapp gescheitert. Wieder einmal mit einer Enttäuschung die Heimreise angetreten.
Er verlor das Spiel, nicht seine Fassung. Das würde sich Joachim Löw auch nie eingestehen. Dafür ist er zu kontrolliert, zu wohl erzogen und schlicht zu höflich. Es ist nicht seine Art, Menschen zu brüskieren, ausfällig zu werden. Ihm möchte nie etwas leidtun. Höchstens seine Spieler sind es, mit denen er leidet.
Uneingeschränkt und bedingungslos stellt er sich vor seine Mannschaft. Auch wenn das in der bitteren Stunde der Niederlage inklusive der Enttäuschung, dass manch Spieler die vom Trainerstab gestellten Aufgaben nicht erfüllt hat, schwer fällt. Als die Fragen nach den Fehlern und der individuellen Perspektive seiner Akteure auf ihn einprasselten, nahm er eine Verteidigungshaltung ein. Den Schock sah man ihm an, dennoch präsentierte er sich möglichst gefasst, ruhig, souverän. Und bereits bilanzierend.
„Grundsätzlich hatten wir zwei sehr gute Jahre“, begann Löw ausholen und referierte, weil er das Gesamtkunstwerk, seine Arbeitsleistung, seit er nach der WM 2006 das Bundestraineramt von Jürgen Klinsmann übernahm, beurteilt werden lassen möchte. Nicht ein Spiel, nicht 90 Minuten wie die gegen Italien. Löw hat stets einen Zweijahres-Rhythmus im Auge, von Turnier zu Turnier. Was sind da schon individuelle Fehler, die in Warschau zu den Gegentreffern von Mario Balotelli führten? „Die Mannschaft hat sich hervorragend entwickelt. Wir haben gegen eine wieder starke italienische Mannschaft verloren. Es gibt keinen Grund, etwas anzuzweifeln. Wir hatten die jüngste Mannschaft, haben trotz allem ein starkes Turnier gespielt. Wir haben in einer starken Gruppe alle Spiele gewonnen. Die Mannschaft wird auch diese Niederlage verkraften und sich weiterentwickeln.“ Alles Argumente, die man ihm abkauft. Auch deshalb, weil der 52-Jährige sie nicht trotzig vorträgt, sondern in moderatem Ton, von sich und seinem Tun völlig überzeugt.
Kurz vor Mitternacht sprach da ein Trainer in Warschau zur Weltpresse, der noch ein Unvollendeter ist, aber längst nicht am Ende des Weges. Als Assistent und tatsächlicher Trainer wirkte er bei der DFB-Revolution im Jahre 2006, war mitbeteiligt am Sommermärchen. Bei der EM 2008 scheiterte seine, spielerisch und strukturell weiterentwickelte Mannschaft wie bei der WM 2010 lediglich an übermächtigen Spaniern. Einmal im Finale, in Südafrika im Halbfinale. Der Wertschätzung seiner Arbeit durch die Bundesliga und den Experten des Landes tat dies keinen Abbruch, seine Popularität steigerte sich selbst durch dritte und zweite Plätze.
Die Spieler schätzen seine ehrliche, direkte Art, auch wenn er ihnen in Aufstellungsfragen weh tun muss. „Es geht immer um den Respekt vor dem anderen Menschen, und da haben wir Trainer natürlich auch eine Vorbildfunktion“, sagt Löw über seinen Stil. Bei den weiblichen Fans kommt der chice, klassische aber nicht aufdringliche Style des gebürtigen Schwarzwälder gut an. Sein Sprachidiom, das „isch' gut“ oder „högschd“ zaubert einen Lächeln in die Gesichter der Betrachter, über Löw macht man sich nicht lustig, man schätzt den obersten Trainer der Nation.
Der nun wieder erklären muss, den Seelentröster seiner Kicker und der Fans spielen muss. Selbst diesen Knopf fand er in Warschau spielerisch. „Man kann den Titel jetzt nicht immer herbeireden. Spanien hat lange darauf gewartet. Wir haben alles versucht, alles gegeben. Wir haben große Moral bewiesen. Bei den letzten vier Mannschaften ist die Luft ganz dünn, ein Moment der Unaufmerksamkeit kann genügen.“
Oder hat doch sein Aufstellungspoker den Ausschlag zugunsten der Italiener gegeben? Sein Mut, fast schon sein Zocker-Gen, hatte ab der Nominierung des Kaders bis hin zu den drei Umstellungen für das Viertelfinale gegen Griechenland Respekt und Bewunderung gefunden. Doch steigerte er sich im Glauben an einen Lauf und die ständig richtigen Bauchentscheidungen nicht zu sehr hinein? Wie ein Pokerspieler in Las Vegas, der immer noch einen draufsetzen will? Er brachte Gomez, nicht Klose gegen Italien, Podolski statt Reus und – völlig überraschend, sein nächster Coup – Kroos im Mittelfeld. Hatte er sich verzockt? Seine Erklärung war nachvollziehbar: „Im Nachhinein hätten wir dieses oder jenes machen können. Mario Gomez hatte drei Tore in dem Turnier erzielt, war auch im Training sehr gut und nach dem Griechenland-Spiel sehr motiviert. Mit Toni Kroos wollten wir die Zentrale stärken gegen Pirlo und De Rossi. Bis zum 0:1 war das Spiel völlig ausgeglichen. Nach dem Gegentor sind wir nicht mehr ins Spiel gekommen.“ Bingo. Die Faust aufs Auge. So jemandem verzeiht man. Jemandem, der Lässigkeit nicht vorspielt, sondern lebt. Ganz natürlich.
Vor dem Anpfiff war er vor sich hin pfeifend durch die Katakomben des Nationalstadions gelaufen. Seine gute Laune ist nichts Aufgesetztes wie die Kopfhörer der Spieler, mit denen sie sich abkoppeln von der Außenwelt. Löw ging an den Spielfeldrand und nahm eine Prise Fußball. Er rupfte ein paar Büschel des Rasens heraus und schnupperte daran. Als wolle er eine Verbindung herstellen. Hier Löw, der Bauchmensch, dort das Gras, eine der Zutaten des Abends. Er wollte ihn in sich aufsaugen, diesen besonderen Moment eines EM-Halbfinals, als wollte er den Duft des Erfolges vorab schmecken. Und jede Unwägbarkeit ausschließend. Die Wahl der Stollen seiner Spieler könnte ja entscheidend sein. Bei aller Euphorie um den Gefühlstrainer: Löw ist ein akribischer Arbeiter, jedes Detail auslotend. Viel hat nicht gefehlt. Ein neuer Anlauf folgt. In Brasilien, 2014.[/INI_3]