Jens Lehmann: "Messis Ecke? Wüsste ich"

Die ehemalige Nummer eins im deutschen Tor, Jens Lehmann, blickt auf die bisherige WM in Südafrika zurück und erinnert sich an das Elfmeterschießen gegen Argentinien 2006 ...
von  Abendzeitung
Jens Lehmann, 2006, direkt vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien
Jens Lehmann, 2006, direkt vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien © dpa

MÜNCHEN - Die ehemalige Nummer eins im deutschen Tor, Jens Lehmann, blickt auf die bisherige WM in Südafrika zurück und erinnert sich an das Elfmeterschießen gegen Argentinien 2006 ...

WM-Viertelfinale gegen Argentinien? Er gibt da einen, der sich damit auskennt: Bei der WM 2006 hat Jens Lehmann im Elfmeterschießen (4:2) zweimal pariert. Dabei trug er im Stutzen einen Spickzettel, welcher Schütze welches Eck bevorzugt. Er beförderte das DFB-Team ins Halbfinale. Die WM in Südafrika kommentiert er als Experte für den Sender „Sky“. In München sprach er über:

die WM: "Ein sehr schönes Ereignis. Man sieht schon, dass die Leute dort alle sehr sehr froh sind, dass sie das auf die Beine gestellt haben, dass die Organisation gut klappt und auch die Begeisterung da ist - und die äußert sich eben vor allem mit den Vuvuzelas."

Enttäuschungen und Überraschungen: "Die Europäer wie England, Frankreich und Italien haben nicht das gebracht, was man erwartet hätte. Vielleicht hatten die Spieler zu große Belastungen in der Champions League, vielleicht waren die Südamerikaner hungriger auf die WM als mancher Europäer. Aber die Art und Weise, wie so manche ausgeschieden sind, war schon überraschend."

die deutsche Mannschaft: "Ich bin ja ein Anhänger des schönen Fußballs, insofern erfreut mich, dass die deutsche Mannschaft in zwei und vielleicht sogar drei Spielen offensiv positiv überrascht hat. Es ist heutzutage nicht, ein gutes Offensivspiel hinzukriegen. Die meisten Mannschaften konzentrieren sich erstmal drauf, defensiv gut zu stehen. Das sind sie von ihren Vereinsmannschaften so gewohnt, und es gibt nur ganz ganz wenig Mannschaften weltweit, die es schaffen, ein attraktives Offensivspiel hinzulegen - und das tut die deutsche Mannschaft. Kompliment an Jogi Löw!"

die vielen Torwartfehler: "Es gibt weltweit nur eine sehr begrenzte Anzahl von Torleuten, die auf höchstem Niveau richtig gut sind. Und dann gibt es eben die, die dahinter sind. Es sind aber auch einige Torleute immer noch im Turnier, die in ihren Vereinen gar nicht spielen. Als positive Überraschung fällt mir da der Keeper von Ghana ein, der bei Wigan Athletic nur vierte Wahl ist, aber von Spiel zu Spiel immer besser wird."

den Ball: "Der spielt schon eine Roll. Beim Spiel Spanien gegen Portugal hat man das noch mal gesehen. Der Iker Cassilas, den ich jetzt nicht zu denn Torhütern zähle, die durch besondere Unsicherheiten auffallen, der hat zwei, dreimal größte Probleme gehabt beim Fangen. Beim dritten Mal hat er erst gar nicht mehr versucht zu fangen, sondern nur noch geblockt. Da sieht man, dass die Torwartfehler nicht nur aus dem können heraus geschehen, sondern auch zu einem gewissen Prozentsatz mit dem Ball zu tun haben."

Fehlentscheidungen der Schiedsrichter und der Forderung nach technischen Hilfsmitteln: "Ich finde nicht, dass man diese Hilfsmittel zulassen sollte. Diese Entscheidungen gehören einfach dazu. Wie jetzt gegen England: Wenn der Schiedsrichter mit dem Abstand von einer Minute sagen würde: kein Tor - das wäre zwar gerecht gewesen, aber wir hätten nichts zu sprechen. Diese Mythen im Fußball werden ja auch dadurch geschaffen, dass es eben manchmal solche falschen Entscheidungen gibt. Diese technischen Hilfsmittel würden das Ganze natürlich klarer und objektiver machen, aber eben die Mystik rausnehmen aus dem Fußball."

seine neue Rolle am Mikrofon, hinter statt im Tor: "Das ist ein wenig schwierig. Von der Fifa wird ja sehr rigoros beobachtet, dass man nicht über die Linie tritt. Ich hab's dann mal gemacht, es ist zwar keiner gekommen, aber die haben schon blöd geguckt. Aber dieser Unterschied von einem Meter drin oder draußen, das ist schon komisch für mich, wenn man es solange gewohnt war, sich warmzulaufen anstatt sich da hin zu stellen. Also das ist keine leichte Sache. Natürlich hätte ich gerne noch mal WM gespielt. Aber ich habe ja schon mal die für uns Deutsche schönste WM erlebt, die man überhaupt haben konnte. Aber wenn man da jetzt auf dem Rasen steht, den Rasen riecht - als ich vor anderthalb Wochen da zum ersten Mal mit dem Mikro in Südafrika stand, da hab ich vier Wochen vorher mein letztes Spiel gemacht. Es ist nicht so, dass ich jetzt schon Abstand hätte. Dass hätte ich auch nicht gedacht, dass dieser Abstand noch nicht klar ist. Ich sehe mich noch mehr als Spie ler, als als Moderator oder Kommentator. Aber so ist das Leben."

den Zettel und das Viertelfinale am Samstag gegen Argentinien: "Ich hoffe, dass es am Samstag ein Elfmeterschießen geben wird. Dann ist meine Geschichte mal passe, dann gibt's was Neues. Messis Ecke? Wüsste ich. So wie ich ihn zwei mal gespielt habe gegen Barcelona wüsste ich von meiner Intuition her, in welche Ecke ich springen müsste. Welche Ecke? Kann ich jetzt nicht sagen. Heutzutage ist doch alles miteinander vernetzt. Meine Empfehlung an Manuel Neuer? Nimm nen Zettel mit! Das mit dem Zettel war ja kein Running Gag, sondern eine reine Notwendigkeit. Der Zettel entstand eigentlich zwischen Tür und Angel, auf einem Sofa nach dem Mittagessen. Ich hatte meine Informationen, Andy Köpke seine aus der DFB-Datenbank, und er hat das dann mal zusammengeschrieben. Ich hatte in meinen bisherigen Elfmeterschießen auch immer Zettel dabei. Die sind halt nur nicht so gezeigt worden. Ich hatte die auch nicht immer in den Stutzen. Bei meinem ersten Elfmeterschießen hat mir Huub Stevens auch einen Zettel gegeben. Da war ich noch jünger, vielleicht konnte ich es da besser behalten. Ich denke, auch die anderen Teams werden ihre Informationen haben, sonst wären sie schlecht vorbereitet. Die Quote der Vorhersagen und der tatsächlichen Elfmeterschüsse? Etwa 50 Prozent. Cruz hat in die laut Zettel angekündigte Ecke geschossen: allerdings links hoch, nicht halbhoch. Und Mascherano - hat der verwandelt? Hat der überhaupt geschossen? Ach nee, Maxi Rodriguez. Der hat ihn reingetan. Der stand auch auf dem Zettel. Ayala kannte ich noch aus Mailand. Der stand auf dem Zettel, aber in meiner anderen Ecke. Ich bin also einmal gegen den Zettel gesprungen, aus dem Bauch raus. Ich bin ja jetzt fertig, jetzt kann ich's erzählen: Es gibt eine Taktik beim Elfmeterschießen, vom Torwart auch.

Wie diese Taktik aussieht? Kann ich noch nicht erzählen. Nur so viel: Es gibt ja diesen Zeitpunkt, wenn sich der Schütze nicht mehr umentscheiden kann. Selbst wenn er den Torwart ausgucken will. Wenn ich in dieser Millisekunde springe, habe ich größere Chancen. Cambiasso stand nicht auf dem Zettel, da musste ich halt überlegen, was ich mache. Der hatte mal vorher in der Champions League gegen Villareal gespielt, bevor wie mit Arsenal gegen Villareal gespielt haben. Und dann sieht man im Spiel, wie der Spieler gerne den ball verteilt, wie er einen Freistoß schießt - und den hat er auch in seine Elfer-Ecke geschossen. Man bekommt ein Gefühl dafür, in welche Ecke ein Spieler gerne schießt, wo er sich sicher fühlt, wo er unter Druck am liebsten hinschießt. Das Schöne ist ja: Man hat als Torwart manchmal ein bisschen Zeit, während des Spiels daran zu denken. Den und den Bewegungsablauf macht er häufig, was darauf schließen lässt, das er in diese oder jene Ecke schießen könnte. Das sind so Kleinigkeiten, die man sich merkt, und dann hat es bei mir geklappt. Ich glaube, ich habe in meinem Leben noch kein Elfmeterschießen verloren.

Ob wir damals 2006 Elferschießen geübt haben, weiß ich gar nicht mehr. Ob Manuel Neuers mangelnde Erfahrung ein Nachteil ist? Ich kenne den argentinischen Torhüter nicht so gut. Es ist ja immer ein Wettbewerb: Du musst nur besser sein als der andere Torwart. Neuer hat auch schon Elfmeterschießen gewonnen, in der Champions League, vor zwei Jahren gegen Porto, also keine schlechten Voraussetzungen. Ob dieser gehaltene Elfer mein tollster Moment als Profi war? Nö. Ich hätte das mal besser ausleben sollen, danach gab's ja die Enttäuschung im Halbfinale. Aber wenn man am Ende eines Turniers oder Wettbewerbs steht und was gewonnen hat, das ist ein schöneres Gefühl.

Vergleich zum Team 2006: "Das aktuelle Team ist besser in der Ballsicherheit, im direkten Spiel nach vorne. Sie haben ja viele Tore innerhalb weniger Sekunden nach Balleroberung erzielt. Das ist ein anderer Stil als 2006. Das macht es auch unterhaltsam. Wir waren allerdings nach hinten besser organisiert."

das Handgemenge nach dem Sieg gegen Argentinien: "Ich bin ja direkt in die Kabine, wusste auch nicht so genau, was ich jetzt machen sollte nach dem Elferschießen. Zum Glück war ich bei der Rauferei nicht dabei. Als Torwart ist man ja schnell auch Zielscheibe, und wenn ich dann da drin gewesen wäre, vielleicht hätte ich auch irgendjemanden geschubst und wäre dann gesperrt gewesen. Kann man ja nicht ausschließen. Aber die Spieler werden jetzt hören: Lasst euch nicht provozieren! Die haben noch die Niederlage von vor vier Jahren im Kopf."

Ballacks Fehlen und die Rolle Schweinsteigers: "Bislang fehlt Ballack noch gar nicht. Aber die WM geht jetzt erst los, ging los mit dem Spiel gegen England. Gegen Argentinien müssen wir nun sehen, wenn auch mal eine Drucksituation kommt, wenn man mal in einem Viertelfinale mal hinten liegt. Da ist gerade bei jungen Spielern die Tendenz da zu verkrampfen. Für Schweinsteiger wird wichtig sein, sich im zentralen Mittelfeld auch mal in de gegnerischen Hälfte anspielen zu lassen. Er hatte in den letzten Spielen zwar viele Ballkontakte, aber immer in der eigenen Hälfte. Das ist eigentlich kontraproduktiv für den Aufbau, denn dafür sind die Verteidiger da. Jetzt muss er mal zeigen, dass er den Ball auch in des Gegners Hälfte verteilen kann. Das ist ein ganz anderes Spiel."

seine Zukunftspläne: "Nach der WM werde ich erstmal in Urlaub fahren und mir überlegen, was mir so fehlt und was mir Spaß machen könnte. Und irgendwann nach ein paar Wochen kann ich dann sicher beginnen, mal was anderes zu machen. Vielleicht spiel' ich auch wieder Fußball. Wenn's mir sehr fehlt. Fußballspielen macht immer Spaß."

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