Hoffenheim, das Fußball-Wunderdorf
Vor ein paar Jahren gab’s noch eine Dose Leberwurst für jedes Tor. Jetzt ist Hoffenheim Bundesliga-Tabellenführer und die schärfste Konkurrenz des FC Bayern. Der unglaubliche Aufstieg eines Dorfs zur heimlichen deutschen Fußballhauptstadt.
Eine Hauptstraße, ein paar Häuser, dazu noch drei Ampeln – viel mehr ist es ja nicht, dieses Hoffenheim, das Kaff südlich von Mannheim, im Rhein-Neckar-Gebiet. Die 3267 Einwohner nennen ihr Heimatdorf liebevoll „unser Hoffe“. Doch jetzt im Winter bleiben sie lieber in ihren Häusern. Denn draußen ist es kalt und der Nebel dicht. Und der krähende Hahn muss sich anstrengen, um Besuchern den Weg zu weisen. Zum Beispiel zur Avia-Station, Hoffes Ort der Begegnung.
Ingrid Kunkel ist die Pächterin der einzigen Tankstelle am Ort. Fahrzeug-Pflege und -Kosmetik, damit kann sie gerne weiterhelfen. Und mit ein paar Geschichten. Denn direkt neben der Waschanlage beginnt das Trainingszentrum der TSG 1899 Hoffenheim, dem Provinzverein, der vor zwei Jahren noch Amateurklub war und heute Tabellenführer der Bundesliga. Immer wieder gern erzählt sie von jenem Tag, an dem TSG-Trainer Ralf Rangnick herein kam, und den Spieler Marcel Throm am Regal mit den Schokoriegeln erwischte. Todernst habe der strenge „Fußball-Professor“ seinen Profi zurechtgewiesen: Keine Süßigkeiten! Und als der Gescholtene davongeschlichen war, habe sich Rangnick grinsend selbst eine Tafel gelangt. „Da wusste ich, der Mann ist in Ordnung“, sagt Ingrid Kunkel.
Der Traum eines kleinen, schlauen Buben
Profis an der Tankstelle, ein Star-Trainer zum Anfassen, die TSG 1899 in der Bundesliga und ein Duell gegen den großen FC Bayern – all das begann als Traum im Kopf eines schlauen Buben, der mit seinen Eltern in bescheidenen Verhältnissen lebte, in einem schmalen Haus am Ortsausgang von Hoffenheim. Hier, wo Dietmar Hopp seine Kindheit und Jugend verbrachte, dreht sich heute ein Dönerspieß. Catide Akseven und ihr Mann Mehmet kauften das alte Gebäude der Familie Hopp vor fünf Jahren und eröffneten das „Bistro Memo – Pizza und Dönerhaus“.
Nein, Dietmar Hopp, der Milliardär und Mäzen der TSG 1899, sei persönlich noch nie da gewesen, sagt Catide Akseven. Aber manchmal ließen die Profis Pizza ins Trainingszentrum liefern. Und TSG-Stars wie Marvin Compper und Tobias Weis hätten auch schon mal ihren neunjährigen Sohn Ibrahim in ihren teuren Autos mitfahren lassen. Ibrahim weiß nichts von den Geschichten, die sich die Älteren im Dorf gerne erzählen. Von Hopp, dem ersten bezahlten Spieler der TSG, der für jedes Tor in der Kreisliga eine Dose Leberwurst bekam. Und sie dort verspeiste, wo jetzt Ibrahims Eltern Fladenbrot mit Dönerfleisch füllen. Hopps Mutter soll ihrem Buben damals geraten haben: „Junge, werde Lehrer“, doch ihr Sohn soll nur geantwortet haben: „Nein, ich will Millionär werden.“
Nicht nur ein unberechenbarer Linksaußen, auch ein kluger Kopf war der junge Dietmar Hopp, der einst mit 50.000 Euro Startkapital den milliardenschweren IT-Konzern SAP aufbaute, ein paar Kilometer weiter, in Walldorf, wo er heute wohnt. Auch in dem Milliardär Hopp waren die Träumereien, denen jeder fußballverrückte Bursche nachhängt, noch lebendig: Der Heimatverein in der Bundesliga, die TSG 1899, ein Proficlub. 1989 steckte Hopp zum ersten Mal seiner „alten Liebe TSG“ 10 000 Mark zu. Bald darauf wurden es Millionen. Hoffes rasanter Aufstieg begann.
Die Entscheidung
Als Hopp zum ersten Mal das Scheckbuch zückte, spielte die TSG in der Kreisliga. Gleich im ersten Jahr gelang der Aufstieg in die Bezirksliga. Jahr für Jahr wurde die TSG besser, arbeitete sich in die höheren Amateurklassen vor. 2001 schaffte die TSG unter Hansi Flick, dem heutigen Co-Trainer von Joachim Löw, bei der Nationalmannschaft den Sprung in die Regionalliga. Und dort stagnierte die Entwicklung. Mäzen Hopp musste entscheiden: Entweder er beendet das Projekt in der dritthöchsten Liga. Oder es wird zum Großangriff geblasen.
Wenige Meter vom Bistro Memo entfernt wohnt Heribert Breunig. Der Mann arbeitet als Maurer für die Kreisstadt Sinsheim. Er arbeitet hart, hat einen Schnauzbart und einen zupackenden Händedruck. Er liebt den Fußball wie Dietmar Hopp. Nur äußert sich diese Liebe bei ihm anders. In blau-weißer Farbe hat er seine Hausfassade gestrichen, und sogar noch das Vereinswappen über das Garagentor gemalt. Stolz zeigt er dem Besucher seinWerk. Fünf Wochen hat er gebraucht, seine Frau und seine beiden Kinder gingen ihm zur Hand. Sein Haus ist das Symbol für die Begeisterung in Hoffe, über den wundersamen Weg ihres Dorfklubs, der sich mit dem FC Bayern messen kann.
Mit Trainer Ralf Rangnick begann die eigentliche blauweiße Revolution. Rangnick war etablierter Bundesliga- Trainer und mit Schalke 04 in der Champions League, als er im Juli 2006 in die Provinz wechselte. Hopp ließ Rangnick mit dem Privatjet in sein südfranzösisches Golf-Resort einfliegen. Dort wurde die Allianz mit dem „Fußball-Professor“ geschmiedet, die Offensive geplant. Mit Rangnick kamen Nationalmannschafts- Psychologe Hans-Dieter Hermann und Sportdirektor Bernhard Peters, einst Trainer der Hockeynationalmannschaft und Freund von Jürgen Klinsmann. Allesamt Spezialisten, die mit modernsten Trainingskonzepten der TSG den letzten Rest von Provinzklub austrieben.
Über 100 Millionen investiert
Gleich im ersten Jahr gelang der Aufstieg in die zweite Liga, seit dieser Saison spielt Hoffenheim in der ersten Bundesliga und steht jetzt an Platz eins. Über 100 Millionen hat Hopp seit der Kreisliga bis heute in die TSG gepumpt. Und einen noch höheren Betrag in die Infrastruktur. Ab der nächsten Saison spielt Hoffenheim in der Rhein-Neckar- Arena, in Hoffenheims Nachbarort Sinsheim. Das Stadion ist Champions-League-tauglich und bietet 30.000 Sitzplätze.
Frisst die blau-weiße Revolution ihre eigenen Kinder? „Wir hier in Hoffe halten immer noch ganz eng zusammen“, sagt Heribert Breunig. Fast jedem Auto, das an seinem blau-weißen Haus vorbeifährt, winkt er zu. Seit vielen Jahren trainiert er ehrenamtlich die F-Jugend und die Bambinis der TSG.
Aber mit dem Fußball ist es nicht mehr so einfach wie früher. Seit Hopp von Spezialisten ein Jugendförderkonzept für den Nachwuchs erarbeiten ließ, muss Breunig Seminare besuchen. Jahrelang hat er die Kleinen nur um Hütchen dribbeln lassen. Heute bekommt er Mustertrainingspläne und Schulungen in Physiotherapie. „Ich bin ja schon ein halber Mediziner", brummt er – als würde ihm bewusst, dass es nie wieder so sein wird wie damals, als die TSG noch Kreisliga spielte.
Dann schaut er wieder auf die blau-weiß gestrichene Fassade von seinem Haus und beginnt zu lächeln. „Wissen Sie was? Wenn Hoffe wirklich Meister wird, kommt auch noch das Dach dran!“
Reinhard Keck