Gernot Rohr: "Der Druck ist bei Frankreich"

Nigerias Nationaltrainer Gernot Rohr spricht über seinen Favoriten für das WM-Finale, die Stärke der Kroaten und die Konsequenzen des deutsches Ausscheidens: "Man muss von vorne anfangen."
von  Julian Buhl
Zwei Hauptdarsteller im Kampf um den WM-Pokal am Sonntag: Kroatiens Kapitän Luka Modric (l.) und Frankreichs Supersprinter Kylian Mbappé.
Zwei Hauptdarsteller im Kampf um den WM-Pokal am Sonntag: Kroatiens Kapitän Luka Modric (l.) und Frankreichs Supersprinter Kylian Mbappé. © dpa, sampics/Augenklick

Der 65-Jährige ist seit 1982 auch im Besitz der französischen Staatsbürgerschaft. Seit 2016 ist er Nationaltrainer Nigerias und nahm mit dem Team an der WM teil.

AZ: Herr Rohr, halten Sie es nach dem Vorrunden-Aus mit Ihrer Mannschaft Nigeria bei der WM jetzt mit Ihrer Wahlheimat Frankreich?
GERNOT ROHR: Ich hatte ja mit Nigeria, Deutschland und Frankreich drei Eisen im Feuer, darf also noch mitfiebern. Zum Finale werde ich nach Baden-Baden kommen und bei der ZDF-Übertragung mitwirken.

Über Frankreichs Finaleinzug haben Sie sich sicher sehr Freude, oder?
Natürlich. Wir haben uns hier in Bordeaux ein Glas Champagner gegönnt mit der Familie. Gewonnen habe ich den übrigens bei einer Wette, weil ich im Viertelfinale gegen Brasilien auf Belgien getippt hatte. Das 1:0 der Franzosen gegen Belgien habe ich sogar exakt vorhergesagt und auch im Morgenmagazin das 2:1 der Kroaten gegen England. Beim nächsten Tipp bin ich aber vorsichtig, da ist alles drin.

Ist Frankreich gegen Belgien schon das eigentliche Weltmeisterstück gelungen?
Die Gefahr ist, dass man glaubt, dass alles im Sack ist. Die Mentalität in Frankreich ist manchmal so, dass man den Tag schon vor dem Abend lobt. Die Kroaten sind dagegen sehr sachlich und ruhig. Wenn man jetzt überheblich wird und meint, die WM ist schon gewonnen, wäre das ein großer Fehler.

Wie bei der Heim-EM 2016, als Frankreich das Finale gegen Portugal verlor.
Daraus hat man hoffentlich gelernt und will diese Erfahrung nicht noch einmal machen, kein zweites Finaltrauma erleben. Nach dem Sieg im Halbfinale gegen Deutschland dachten sie damals, sie hätten das Schwierigste schon hinter sich. Der Druck ist jetzt wieder auf den Schultern der Franzosen. Denn sie sind überall Favorit, hatten einen Tag mehr zur Vorbereitung, bisher keine Verlängerung, haben zum Beispiel mit Mbappé, Griezmann und Varane große Spieler. Diese Rolle des Favoriten zu tragen, ist manchmal sehr schwierig.

Was zeichnet die Équipe Tricolore bei der WM aus?
Solidität, Realismus, gute Organisation, jugendliche Frische. Mit den neuen Außenverteidigern hat Didier Deschamps auch die Lösung für die Abwehrprobleme gefunden. Jetzt spielen praktisch nur drei Offensivleute: Giroud, Griezmann und Mbappé. Sie lassen den Gegner kommen und sind keine Mannschaft wie Deutschland oder Spanien, die immer versucht ,den Ball zu halten, sondern eine, die so viel wie möglich vertikal spielt. Das ist die neue Tendenz bei der WM, dass man die Mannschaften, die den Ball haben, immer recht gut ausrechnen kann. Und wenn man den Ball gegen diese Teams erobert und schnell nach vorne kommt, dann haben die Probleme.

Löw weiter Bundestrainer: "Das finde ich gut"

Dass Kroatien im Finale steht, ist für Sie keine große Überraschung Sie nannten das Team vorm Turnier als Favoriten.
Wir wussten ja seit sechs Monaten, dass wir das Eröffnungsspiel gegen sie bestreiten würden. Seitdem habe ich sie studiert: Sie haben keinen Schwachpunkt und sind überall gleich gut besetzt. Dazu kommt noch die Erfahrung. Viele Spieler sind tragende Persönlichkeiten bei den besten Vereinen Europas. Deshalb gehörten sie für mich von vornherein zu den Favoriten.

Welche Erkenntnisse haben Sie aus dem Duell gegen Kroatien gewonnen?
Man muss vor allem auf ihre hervorragende Arbeit im Mittelfeld aufpassen, sie bauen sehr gut auf und pressen hervorragend. Außerdem sind sie fast durchgehend sehr kopfballstark und gut bei den Standards.

Worauf wird es im WM-Finale jetzt ankommen?
Es wird entscheidend sein, wie die Franzosen das Spiel mental angehen werden. Sie sind eigentlich viel frischer. Diese physische Frische muss man aber im Spiel sehen, durch eine gute Aggressivität, schnelle Konter. Sie sollten nicht zu abwartend spielen. Man kann sich nicht immer darauf verlassen, dass die Tore nach einer Ecke oder einem Freistoß quasi von alleine fallen. Sie müssen das Tor selbst suchen. Und wenn es fällt, nicht den Fehler wie die Engländer machen und glauben, das wäre es schon. Auch wenn die Kroaten mit den dreimal 30 Minuten Verlängerung ein komplettes Spiel mehr in den Knochen haben, können sie einen Rückstand aufholen.

Wo sehen Sie die Gründe für das Vorrunden-Aus der deutschen Elf?
Das hat mich äußerst überrascht und enttäuscht. Aus der Ferne betrachtet haben sie keinen Geist gezeigt, weder Kampf- noch Mannschaftsgeist. Hier in Frankreich sagt man zur deutschen Elf "La Mannschaft", das war aber keine Mannschaft.

Löw bleibt Bundestrainer.
Das finde ich gut. Er hat so viel Erfahrung und kriegt das auch wieder hin. Er hat das ja schon mal bewiesen, war damals ein Revolutionär. Löw ist zusammen mit Bierhoff vom hohen Ross gefallen. Das tut gut, dass man mal wieder von vorne anfangen muss. Sie müssen sich erneuern, sich vielleicht auch besser umgeben. 117 Menschen im Tross ist einfach viel.

"Für meine Mannschaft entwickel ich manchmal väterliche Gefühle"

Was nehmen Sie mit Nigeria von der WM mit?
Viel Positives und dass der Unterschied zur Weltspitze nicht mehr so groß ist. Kroatien hat gegen uns in der 71. Minute zum ersten Mal aufs Tor geschossen, mit dem Elfer zum 2:0. Der erste Treffer war ein Eigentor. Unser 2:0 gegen Island war hervorragend und gegen Argentinien (1:2, d. Red.) hat es etwas an Erfahrung und vielleicht auch an der richtigen Interpretation des Videoschiedsrichters gefehlt. Wir waren das jüngste Team, haben gelernt und der Geist in der Truppe stimmt. Wenn wir so weitermachen, wird es schon beim Afrika-Cup sehr gute Ergebnisse geben.

"Er ist wie ein Vater für uns und wir wie seine Kinder", sagt Ihr Spieler Wilfred Ndidi über Sie. Wie finden Sie das?
Ich versuche in die Mannschaft einen Geist reinzubekommen, wie in eine Familie. Wir haben ein paar unglückliche Dinge zusammen erleben müssen, wie die schwere Krankheit unseres Torhüters, der sich ein Jahr lang Chemotherapien unterziehen musste. Bei uns wird Solidariät großgeschrieben. Meine Spieler sind so jung und ich ein bisschen älter, dass sich tatsächlich manchmal väterlichen Gefühle entwickeln.

Für Aufsehen sorgte Nigeria auch mit seinen WM-Trikots.
Mir hat das etwas diskretere, dunkelgrüne zunächst besser gefallen. Aber die jungen Spieler waren heiß auf das andere, auffälligere. Offenbar ist das zu einem Verkaufsschlager geworden. Das hatten wir übrigens auch bei unserem Sieg an. Ich habe meinen Kindern aber eine große Freude mit einem anderen Trikot gemacht.

Mit welchem?
Nach dem Spiel bin ich zu den Argentiniern in die Kabine und habe gratuliert. Da hat mein Trainerkollege Jorge Sampaoli mir das Trikot von Messi geben lassen. Darauf bin ich sehr stolz. Die WM war für uns ein tolles Erlebnis. Die Russen haben das gut gemacht mit viel Gastfreundschaft. Wir wurden überall freundlich empfangen, es gab überhaupt keine Diskriminierung oder andere Probleme.

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