EM-Triumph 1972: Günter Netzer erinnert sich in der AZ

War der Europameister von 1972 die beste deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihrer Geschichte, wie Nostalgiker schwärmen? Frei nach Muhammad Ali: "The Greatest of all Time"?
Vor 50 Jahren, am 18. Juni, deklassierte die "Jahrhundertelf" von Bundestrainer Helmut Schön die UdSSR im Brüsseler Heysel-Stadion. 3:0 endete das EM-Finale. Der Mythos wurde sieben Wochen zuvor in Wembley geboren mit dem ersten deutschen Sieg - 3:1 - im Mutterland des Fußballs. Der Ruhm einer großen Mannschaft in der Statistik 1972: 6 Siege, 1 Unentschieden, 19:4 Tore, 13 von Gerd Müller.
Maier: "Die beste Mannschaft aller Zeiten? So ein Scheiß! "
Günter Netzer (77), von den Weltmeisterschaften 1998 bis 2010 dreizehn Jahre lang an der Seite von Gerhard Delling ARD-Fußballexperte und damit der kompetenteste "Historiker", legt sich gegenüber der AZ fest: "Nach dem ersten Sieg in England, im EM-Viertelfinale, hat es nie eine Nationalmannschaft mit größerem Selbstbewusstsein gegeben. In die beiden Endrundenspiele in Belgien gingen wir mit der absoluten Gewissheit, dass uns nichts passieren konnte."
Sepp Maier (78), der damals noch leicht ironisch von einer "Wunderelf" sprach, poltert im "Kicker": "Die beste Mannschaft aller Zeiten? So ein Scheiß! Das gibt's ja nicht. Ich habe mir mal wieder das 3:1 in England angeschaut. Da denkst du nach fünfzig Jahren: Was war denn da los? Wie spielen die Fußball? Allerdings hatten wir 1972 gedacht, man kann nicht besser spielen als wir damals."
Sei's drum: Die 72er waren nach den "Helden von Bern" die bewundertste deutsche Nationalmannschaft des 20. Jahrhunderts. Die belgische Zeitung "Het Laatste Nieuws" hatte im Finale "ein neues Wunderteam" gesehen.
Vor dem Finale musste Vogts die Kabine verlassen
Helmut Schön, der feingeistige "Mann mit der Mütze", war der ideale Leiter dieses Bayern-Borussia Blocks aus München (Maier, Breitner, Schwarzenbeck, Beckenbauer, Hoeneß, Müller) und Mönchengladbach (Netzer, Wimmer, Heynckes). Höttges (Werder) und E. Kremers (Schalke) waren die "Fremden" im Endspiel.
Gegen Belgien im Halbfinale in Antwerpen, beim 2:1-Sieg durch zwei Tore Gerd Müllers, wurde Uli Hoeneß gegen Jürgen Grabowski (Eintracht) ausgewechselt. Wolfgang Overath, zuletzt Kapitän, fehlte verletzt seit Jahresbeginn. "Sonst hätte ich gar nicht gespielt", erzählt Netzer. Berti Vogts gehörte nach einer Knieoperation zwar zum Kader, doch an einen Einsatz war nicht zu denken. Er saß da und weinte. Schön komplimentierte ihn aus der Kabine: "Berti, Tränen sind vor einem Endspiel nicht gerade Stimulans für die anderen."
Die sowjetische Mannschaft war bestens bekannt. Nur gut drei Wochen zuvor hatte der neue deutsche "Swingrhythmus" (Schön) die seit 17 Spielen ungeschlagene UdSSR zerlegt. Im Freundschaftsspiel zur Eröffnung des Münchner Olympiastadions. Gerd Müller erzielte alle vier Tore zum 4:1-Sieg.
Mannschaftssitzung vor dem Wiedersehen in Brüssel. "Als er die Taktik an die Tafel zeichnete, drehte sich Schön plötzlich um und sagte: ,Ach, das ist doch alles überflüssig - macht ganz einfach, was ihr wollt", erinnert sich Netzer. "Schön entwickelte das feine Gespür dafür, wie gefestigt wir waren, und ließ uns alle Freiheiten."
Das Endspiel "lief wie geschmiert", schwärmt Schön in seiner Autobiografie. Die "traumwandlerische Harmonie" (Schön) zwischen Libero Beckenbauer und Regisseur Netzer prägten den Wembley-Stil. Diese plötzlichen, wechselnden Vorstöße aus der Tiefe des Raumes verwirrten auch die Sowjets. Das kongeniale Duo hatte zuverlässige Fleißbienen zur Seite.
Maier fängt Flitzer mit Fahne ein
Was dem einen sein Schwarzenbeck, war dem anderen sein Wimmer. "Ich habe Günter im Mittelfeld unterstützt", gibt sich Franz Beckenbauer (76) im Rückblick bescheiden. Gerd Müller, wer sonst, schoss das 1:0 (28.), Herbert Wimmer das 2:0 (52.). Das dritte Tor (57.) war wieder Müllers Ding nach einem sensationellen Solo von Georg "Katsche" Schwarzenbeck.
Sepp Maier musste nur kurz vor Schluss energisch zupacken, um einen deutschen Zuschauer, der mit Fahne auf den Platz rannte, einzufangen. "Damit hat uns der Sepp den Sieg gerettet", steht in Schöns Buch.
Der österreichische Schiedsrichter Marschall sei nahe dran gewesen, das Spiel abzubrechen, als Tausende von deutschen Schlachtenbummlern (so hießen damals die Fans) unter den 45.000 Zuschauern lange vor dem Abpfiff an den Spielfeldrand drängten.
Helmut Schön schließt das Kapitel Brüssel mit dem rührseligen Absatz: "Als die Spieler auf die Tribüne gingen, um den Pokal zu holen, fragte mich Franz Beckenbauer: ,Kommen Sie mit?' Ich wollte eigentlich nicht. Eine solche Ehrung ist Sache der Spieler. Schließlich haben sie ja gewonnen. Aber der Franz zog mich fast hinauf. Die Spieler haben mir dann den Pokal auch in die Hand gedrückt, und ich konnte zum ersten Mal ein Küsschen auf einen so wertvollen Pott drücken."