EM-Gespräch mit Cem Özdemir: "Baerbock ist unser Lewandowski"

AZ: Herr Özdemir, Sie haben am Dienstag bestimmt mitgefiebert vor dem Bildschirm. Wie fällt Ihre Analyse des deutschen Auftaktspiels bei der EM aus?
CEM ÖZDEMIR: Das ist wirklich nicht gut gelaufen. Die Leistung war nicht schlecht, aber die Franzosen waren vor allem vorne richtig gut. Am Ende fehlen die Tore, beziehungsweise wir schießen sie auf der falschen Seite. Aber die deutsche Elf ist traditionell eine Turniermannschaft. Da ist noch alles drin!
Jogi Löw wirkte auf der Trainerbank ratlos, mutlos. Man fühlte sich etwas erinnert an Angela Merkel, die in den letzten Monaten ihrer Amtszeit auch eher paralysiert vor sich hindämmert. Beenden beide ihre Karriere als Lame Duck?
Die Strategie von Löw hat mich etwas ratlos zurückgelassen, aber die EM ist ja noch jung. Die Mannschaft kann das noch rumreißen, und der Kader sollte eigentlich für sich sprechen. Nur bei einem Sieg wird gut enden, was mit der WM 2014 gut angefangen hat. Ansonsten wird die Frage im Raum bleiben, wie es passieren konnte, dass der Zeitpunkt für den Wechsel an der Spitze der Nationalmannschaft verpasst werden konnte. Er hat den deutschen Fußball modernisiert wie Frau Merkel die Union, die sie anschlussfähig an eine breite gesellschaftliche Mitte machte. Aber jetzt fehlen irgendwie die Ideen.
Auch bei Merkel.
Bei der Kanzlerin wird das Bild dadurch getrübt, dass sich eine gewisse Bräsigkeit übers Land ausgebreitet hat. Denken Sie nur an den Totalausfall beim Klimaschutz, die gravierenden Defizite in Bildung und Digitalisierung. Das zeigt uns wie unter einem Brennglas, dass das Land bei weitem nicht so modern ist, wie wir manchmal glauben. Ihre Partei hat die Kanzlerin - zumindest vorübergehend- modernisiert, das Land leider nicht in dem Maße wie es notwendig gewesen wäre.
Baerbock und Flick "ideale Traumkombination"
Löw und Merkel prägten eineinhalb Jahrzehnte die beiden gefühlt wichtigsten Ämter im Land. Auch zwischen ihren Vorgängern gab es Parallelen. Die Nachkriegs-Grantler Herberger und Adenauer, die liberalen Helmuts, die Mützenträger Schön und Schmidt, aber auch Vogts und Kohl als Kinder der erzkonservativen Provinz. Was wird Annalena Baerbock mit Hansi Flick verbinden?
Das wäre die ideale Traumkombination an der Spitze des Landes und des Fußballs. Bei Flick steht es schon fest, bei Baerbock werden es die Wählerinnen und Wähler entscheiden. Weltmeister im Fußball und Weltmeister im Klimaschutz: Das wäre was. Statt Parallelen sehe ich aber einen großen Unterschied. Flick war schon Teil des Regierungsteams beim DFB, Baerbock verkörpert einen echten Aufbruch nach 16 Jahren mittelmäßiger Aufstellung mit Dobrindt, Scheuer, Karliczek und Co. Es wird höchste Zeit, dass wir nicht nur in der Nationalmannschaft, sondern auch im Bundeskabinett die besten Leute aufstellen.
Bleiben wir metaphorisch beim Fußball: Die Grünen waren jahrelang ein sympathischer, befreit aufspielender Underdog, der SC Freiburg der Parteienlandschaft. Ganz plötzlich lagen Sie laut Umfragen in der Rolle des FC Bayern an der Tabellenspitze. Schon verkrampften Sie, machten Fehler, schossen Eigentore. Ist in der Favoritenrolle der Druck für Sie zu groß?
Ich will nicht klagen. Wie heißt es doch: If you can't stand the heat, leave the kitchen. Wir wollten die Hitze, und die haben wir auch. Wir halten das aus. Wir haben uns um den Druck beworben, um den rauen Wind, der uns jetzt entgegenbläst. Um im Fußball zu bleiben: Wir haben Qualifikation und Vorrunden erfolgreich gemeistert, sind jetzt auf dem Weg ins Finale. Wichtig ist, dass wir unsere Defensive stabilisieren und hinten nichts mehr durchlassen. Es ist richtig, wir haben hinten gewackelt, stürmen aber mittlerweile wieder kraftvoll nach vorne. Wir sind noch in der ersten Spielhälfte, entscheidend ist, dass wir am Wahltag um 18 Uhr ein Tor mehr geschossen haben als die Konkurrenz.
Özdemir: Robert Habeck ist unser Toni Kroos
Dennoch wirkt Ihre Taktik sehr abtastend. Annalena Baerbocks Rede auf dem Parteitag wurde als übervorsichtig interpretiert. So als sei ihr Redenschreiber Huub Stevens: Die Null muss stehen. Wann erleben wir ein grünes Offensiv-Spektakel?
Keine Sorge, wir sind hervorragend aufgestellt und haben eine tolle Mannschaft. Annalena ist vorne unser Lewandowski und macht die Tore, Robert Habeck unser Toni Kroos. Und hinter ihr halten wir als Team den beiden den Rücken frei, sichern ab und spielen die Bälle nach vorne. Mehr wie zum Beispiel Matthias Ginter oder Jo Kimmich, wenn er im defensiven Mittelfeld spielt. Außerdem kommt Kimmich ja vom VfB Stuttgart, meinem Verein.
Kommen wir zurück zur EM: Wie gefällt Ihnen als glühender Europäer das Konzept mit elf Spielorten quer über den Kontinent? Ein hehres Symbol für die paneuropäische Idee? Oder bleibt ein fahler Beigeschmack, weil man bei demokratiefeindlichen Autokraten wie Alijew und Orban in Baku und Budapest vorspielt?
Ich bin nur froh, dass Minsk kein Spielort ist. Dass wir die EM nicht noch Lukaschenko für eine Propaganda-Inszenierung schenken. Mit Schrecken denke ich an die WM 1978, die stattfand, während die argentinische Militär-Junta Kritiker zu Tode folterte oder vom Flugzeug aus ins Meer warf, und sich damals auch der DFB nicht zu schade war, sich für diese Inszenierung der Militärdiktatur herzugeben. Das war eine WM, an der Blut klebte. Deswegen würde ich auch in einer die Menschenrechte mit Füßen tretenden Diktatur wie Aserbaidschan nicht spielen. Klar ist aber auch, in der Praxis ist es extrem schwer, die Grenze zu ziehen. Halbfinale und Finale finden ja zum Glück in London statt, da gibt es aus demokratischer und menschenrechtlicher Sicht nun wirklich nichts zu beanstanden, auch wenn mir persönlich die Bilder eines triumphierenden Johnsons nicht gefallen. Der hat maßgeblich zum Brexit beigetragen.
Özdemir: England scheitert an der DFB-Elf
Schmerzt Sie der Brexit noch?
Ja, es war aus meiner Sicht als überzeugter Europäer ein historischer Fehler. Ich hoffe, dass es eines Tages eine Generation in England gibt, die zurück möchte in die EU. Unsere Hand wird ausgestreckt bleiben.
Ein EM-Triumph Englands würde vermutlich Boris Johnson und seinen Brexiteer-Populisten enormen Aufschwung geben.
Davon müsste man ausgehen, ich bin aber ganz entspannt. England wird nicht Europameister, weil sie auf dem Weg zum Titel gegen Jogi Löws Team verlieren. Natürlich im Elfmeterschießen (lacht).
Es gibt ja gerade von führenden Sportverbänden wie der Fifa und dem IOC die alte Floskel, dass man Politik und Sport doch bitte voneinander trennen sollte.
Dieser Spruch aus dem Munde von Sportfunktionären ist nichts anderes als eine verklausulierte Unterstützung für autoritäre Herrscher, damit sie ein Großereignis für ihre Propaganda nutzen können. Wer so etwas sagt, meint häufig, dass man bei Menschenrechtsverletzungen, bei Rassismus, bei Homophobie wegschauen sollte. Da mache ich nicht mit.
Wenn Sie die Nationen unabhängig vom Sportlichen rein nach ihrer demokratischen Struktur bewerten, nach freiheitlichen Werten, Toleranz und Pluralismus. Wem würden Sie, abgesehen von Deutschland, dann den Titel wünschen?
Unter diesem Aspekt unserem Nachbarn und engem Freund Frankreich. Schon die beiden WM-Erfolge waren wichtige Signale für die multi-ethische Gesellschaft. 1998 das "Black-Blanc-Beur". 2018 mit "Liberté, Egalité, Mbappé". Nächstes Jahr sind Wahlen in Frankreich, und keine überzeugte Europäerin und kein überzeugter Europäer sollte ein Interesse haben, dass Marie Le Pen dann gewinnt. Eine französische Präsidentin vom AfD-Kaliber wäre eine Katastrophe für Europa. Wenn ein EM-Sieg Frankreichs dabei hilft, dass Macron im Amt bleibt und Le Pen verhindert wird, dann wäre es mir das wert.