EM-Experte Thomas Broich erklärt in der AZ, wofür die DFB-Elf ein Paradebeispiel ist

AZ-Interview mit Thomas Broich. Der Ex-Profi (43) ist bei der EM als ARD-Experte aktiv.
AZ: Herr Broich, die Gruppenphase der EM ist vorbei, die Achtelfinals stehen vor der Tür. Was hat Sie als TV-Experte der ARD bei den bisher absolvierten 36 Partien am meisten überrascht?
THOMAS BROICH: Sehr positiv ist mir aufgefallen, dass die meisten Mannschaften noch etwas mit dem Ball anfangen können – und auch wollen. (lacht) Bei großen Turnieren muss man ja immer die Sorgen haben, dass viele Tore über Standards fallen, aber dieser Faktor war bislang sehr gering. Zudem überrascht mich, dass die Teams so eine breite Palette an offensiven Lösungen haben, also in der Lage sind, auf ganz verschiedene Art und Weise Tore zu erzielen, gerade wenn es darum geht, die tiefen Abwehrblöcke zu knacken.
Broich: England "aus dem Turnier zu kegeln, wird ganz schwer"
Offenbar nicht alle Teams. . . Gerade Titelfavorit England, die am aktuellen Marktwert gemessen mit 1,8 Milliarden Euro wertvollste Mannschaft des Turniers, tut sich sehr, sehr schwer, mit dem Toreschießen.
Das ist tatsächlich sehr auffällig. Zumal man noch sehen muss, dass diese Spieler aus der Premier League ja eigentlich einen ganz anderen Fußball gewöhnt sind und zum Beispiel von Manchester City ihren Pep-Guardiola-Background oder vom FC Arsenal ihre Mikel-Arteta-Background in die Nationalmannschaft mitreintragen. Dass davon unter Trainer Gareth Southgate, so wenig zu sehen ist, das ist – man kann es gar nicht anders sagen – schon enttäuschend.

Die Mannschaft wirkt gehemmt. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Southgate die Three Lions nicht von der Leine lässt?
Ich vermute, Southgate hat eine ganz andere Grundüberzeugung: Sein erstes Ziel im Spiel ist nicht, zu gewinnen, sondern ganz schwer zu schlagen zu sein. Und dieser Plan geht ja auf, wer schlägt denn die Engländer? Diese Mannschaft aus dem Turnier zu kegeln, wird ganz schwer. Natürlich haben die großen Nationen, wie Frankreich, Spanien oder auch Deutschland die Mittel, die Engländer zu knacken, aber alle diese Teams können gegen so ein England mit einem ekligen 0:1 auch rausfliegen. So kommt England womöglich bis ins Halbfinale, man hat dann zwar nicht schön gespielt, aber auf dem Papier ist so ein Abschneiden ja kein klarer Misserfolg.
Broich erwartet "ganz andere Intensität" der DFB-Elf gegen Dänenmark als gegen die Schweiz
Apropos Deutschland: Welche Lehren aus dem späten 1:1 im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz kann das Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann mit ins Achtelfinale gegen Dänemark nehmen?
Vor allem, dass der Plan B funktioniert hat, das Element "Brechstange" gibt es mit Niclas Füllkrug und David Raum und mehr Flanken, aber wir haben auch immer noch unsere Eins-gegen-Eins-Dribbler wie Chris Führich. Die deutsche Mannschaft ist geradezu das Paradebeispiel dafür, sehr variable Tore zu machen.
Das klappte im letzten Spiel nur mäßig. Liefert diese Partie nicht eine Blaupause für jeden Gegner, wie Deutschland zu knacken ist, indem man nämlich den Aktionsradius von Toni Kroos massiv einschränkt?
Da habe ich keine Angst. Es darf nicht sein, dass wir auf einmal deutlich schwächer sind, nur weil ein Spieler nicht seinen besten Tag hat. Natürlich macht uns ein funktionierender Toni Kroos immer besser, aber ich sehe, da so viele andere Spieler wie Ilkay Gündogan, Robert Andrich, Florian Wirtz oder Jamal Musiala, die Räume, die entstehen, wenn Kroos die Gegenspieler auf sich zieht, nutzen können – und auch müssen. Das wird Julian Nagelsmann man mit seinem Team auch herausgearbeitet haben. Außerdem werden wir eine ganz andere Intensität in diesem K.o.-Spiel sehen, als im letzten Spiel, wo es "nur" noch um den Gruppensieg ging.
Kommen wir zum Schluss noch zur Gretchenfrage fürs Dänemark-Spiel: Niclas Füllkrug oder weiter mit Kai Havertz? Auf welchen Stürmertyp sollte Nagelsmann setzen?
Ich finde, dass Havertz unheimlich viel anbietet, funktioniert aufgrund seiner Technik und seines Körpergeschicks auch in engen Räumen. Und er ist auch ein Kopfballspieler, hat bei Arsenal auch das ein oder andere Tor per Kopf erzielt und bringt die anderen Stürmer-Elemente mit Tiefenläufen und so weiter ja auch mit. Plan A wäre für mich, es zunächst mit Havertz zu probieren, zumal wir mit Füllkrug einen hervorragend funktionierenden Backup haben. Diese Rollenverteilung ist bislang top. Außerdem glaube ich fest daran, dass sich diese Mannschaft mit jedem Spiel mehr eingroovt.